Noch vor kurzem leitete Tatjana Wichtodenko (43) in Kiew ein Unternehmen mit 2000 Angestellten. Heute steht sie in einer Küche auf einem Bauernhof im Zürcher Unterländer Dörfchen Weiach und poliert den Induktionsherd. Einmal pro Woche kommt die Ukrainerin beim Bauern vorbei, um dessen Wohnung auf Vordermann zu bringen. Es ist einer von mehreren Putzaufträgen Wichtodenkos.
Von der Direktorin zur Putzfrau: Eine Erfolgsgeschichte, könnte man meinen, klingt anders. Doch Tatjana Wichtodenko ist stolz auf das, was sie erreicht hat. Sie gehört zu den 7,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die wegen des Krieges aus der Heimat geflohen sind. Zurück liess sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihren Ehemann, ihre beiden Hunde, Verwandte und Freunde. «Meine Mutter webt Netze für die Armee, mein Vater versorgt die Soldaten mit Lebensmitteln», erzählt sie.
Ziel fast erreicht
Auch Wichtodenko will sich nützlich machen – wenn auch nicht in der Ukraine, sondern hier in der Schweiz. Blick hat die Ukrainerin vergangenen Mai zum ersten Mal getroffen. Schon damals hatte die Geschäftsfrau, die bei einer Gastfamilie in Glattfelden ZH untergekommen ist, ein Ziel: Sie wollte in der Schweiz eine Putzfirma gründen, um auf eigenen Beinen stehen zu können und Jobs für andere Ukrainerinnen zu schaffen.
Ein knappes halbes Jahr später steht sie kurz davor, ihre Vision zu verwirklichen. Die Ukrainerin spricht inzwischen ein bisschen Deutsch, hat sich auf dem Gebiet der professionellen Reinigung weitergebildet, erste Kunden sind akquiriert, die Homepage der Putzagentur steht. Nur die offizielle Firmengründung steht noch aus, die ihr ermöglicht, andere Ukrainerinnen und Ukrainer anzustellen. Als Ausländerin braucht sie dafür einen Geschäftsführer mit Schweizer Pass. Wichtodenko hofft, bald jemanden Geeignetes für die Putzpani GmbH zu finden.
«Es geht mir nicht ums Geldverdienen»
«Ich weiss, dass es viele Ukrainerinnen gibt, die gerne arbeiten wollen und dazu in der Lage sind. Ich will ihnen diese Möglichkeit geben», sagt Wichtodenko. Bereits gefunden hat sie zwei Geschäftspartnerinnen: Olha Paskalenko (31) und Olha Zaretskaja (42) kommen wie Tatjana Wichtodenko aus Kiew. Die drei haben sich aber erst in der Schweiz kennengelernt. Zaretskaja ist gelernte Buchhalterin und lebt derzeit mit ihrer Familie in Schwyz. Paskalenko, die in St. Urban LU unterkam, hat als Managerin in der Ukraine gearbeitet sowie Französisch und Englisch unterrichtet.
Nun putzen auch sie. Gemeinsam haben die drei Frauen bereits 16 Kunden im Kanton Zürich und der Zentralschweiz. «Es geht mir nicht nur ums Geldverdienen», sagt Olha Paskalenko. Wichtig sei ihr vor allem, dass sie sich nützlich machen könne. Olha Zaretskaja sieht die Putzarbeit zudem als Chance, rasch besser Deutsch zu lernen. Sobald die Sprachkenntnisse gut genug sind, will die Buchhalterin wieder mit Zahlen statt Wischmopp und Staubsauger arbeiten.
Keine Sozialhilfe mehr
Bisher haben gut 4700 Personen mit Schutzstatus S in der Schweiz Arbeit gefunden. Das sind 13 Prozent, was verglichen mit anerkannten Flüchtlingen oder vorläufig Aufgenommenen ein sehr hoher Wert ist. Dass sich jemand wie Wichtodenko selbständig macht, ist sehr selten. Im Kanton Zürich beispielsweise gab es im August und September gerade einmal je zehn Schutzsuchende, die sich selbständig machen wollen.
Das Geschäft von Tatjana Wichtodenko läuft ziemlich gut. Momentan gewinne sie Kunden allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Die Ukrainerin bezieht schon seit einigen Monaten keine Sozialhilfe mehr – was ihr sehr wichtig ist.
Die Ukrainerin sprüht vor Energie und hat trotz der widrigen Umstände den Mut und den Kampfgeist nicht verloren. «Wir liegen nicht einfach auf dem Sofa und warten, bis der Krieg vorbei ist», sagt sie. Natürlich habe sie schon oft darüber nachgedacht, in ihre Heimat zurückzukehren. «Doch immer, wenn ich mir darüber Gedanken mache, passiert wieder etwas Beunruhigendes», sagt sie. Eine Rückkehr sei ihr derzeit einfach zu unsicher.
«Ich bin Ukrainerin. Ich gebe nicht auf»
Statt an das alte Leben zu denken, blickt Wichtodenko mit Optimismus nach vorne. «Ich bin glücklich, dass ich trotz der Sprachschwierigkeiten und all des Kummers in einem fremden Land Erfüllung gefunden habe. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt und zahle Steuern, ich sehe neue Horizonte und habe Raum, mich weiterzuentwickeln.» Sehr dankbar sei sie ihrer Gastfamilie, einem Ehepaar, das sie tatkräftig unterstütze.
Ist der Krieg einmal vorbei, will sie das Geschäft in der Ukraine fortführen, so Wichtodenkos Plan. Nun aber will sie erst mal hier durchstarten. Denn eines steht für sie fest: «Ich bin Ukrainerin. Ich gebe nicht auf.»