SAB-Experte Thomas Egger über Schneemangel
«Orte unter 1600 Meter müssen vom Skitourismus wegkommen»

Tief gelegene Wintersportorte sollen sich neue Nischen suchen, rät Experte Thomas Egger. Solche gebe es genug. Denn, dass für sie die Zukunft nicht mehr im Skitourismus liegen kann, zeigt sich in diesen Tagen eindrücklich.
Publiziert: 24.12.2022 um 18:05 Uhr
|
Aktualisiert: 02.01.2023 um 15:27 Uhr
1/6
SAB-Direktor Thomas Egger ruft gerade tiefer gelegene Tourismusorte dazu auf, an die Zukunft zu denken.
Foto: keystone-sda.ch
Bildschirmfoto 2021-05-27 um 10.32.01.png
Pascal TischhauserStv. Politikchef

Weisse Weihnachten? Von wegen! Es ist viel zu warm und vielerorts regnerisch. Gerade in tieferen Lagen spüren das die Wintersportorte derzeit. Sie müssten jetzt reagieren, sagt der Fachmann Thomas Egger (55). Der Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) ruft die Tourismusdestinationen dazu auf, sich neu auszurichten. Er spricht vom Projekt «Beyond Snow».

Blick: Herr Egger, wo erreichen wir Sie gerade?
Thomas Egger:
Ich bin im Wallis, in Visp, um genau zu sein. Und bevor Sie fragen: Nein, es hat keinen Schnee und es regnet sehr stark.

Eigentlich sollte an Weihnachten alles weiss sein, nicht?
Genau, in unserer Vorstellung wäre das Wallis tief verschneit. Aber leider müssen wir uns von solchen Vorstellungen verabschieden. Wir träumen von Wintern wie früher, aber wir müssen der Realität in die Augen schauen: Wir haben soeben das wärmste Jahr seit Messbeginn erlebt. Solche Verhältnisse sind die neue Normalität. Unter 1600 Metern ist es nicht mehr schneesicher.

Schlecht für den Wintertourismus.
Nicht nur, betroffen sind viele Bereiche, so auch die Landwirtschaft. Aber gerade Tourismusorte in tieferen und mittleren Lagen müssen sich überlegen, wie sie von der einseitigen Ausrichtung auf Skitourismus wegkommen. Die Bergbahnen in diesen Destinationen stehen oft vor grossen finanziellen Herausforderungen. Meist springt dann die Gemeinde mit Geld ein, was die Bahnen aber längerfristig auch nicht rettet. Dieses Geld könnte besser eingesetzt werden.

Wie denn?
Höher gelegene Skigebiete voll ausbauen – wenn nötig auch mit gewissen Konzessionen beim Landschafts- und Naturschutz – und dafür in den tieferen und mittleren Lagen neue Angebote mit anderen Zielgruppen aufbauen. In der Gesamtbilanz würden so alle profitieren.

Damit schaffen Sie sich im Unterland keine Freunde. Doch was sollten die tiefgelegenen Orte tun?
Bewährt haben sich regionale Absprachen. Ein gutes Beispiel sind die Waadtländer Alpen mit Stationen wie Chateau-d'Oex, Leysin und Rougemont. Hier hat die Waadt gesagt, wir unterstützen euch, aber ihr müsst euch einigen, wer was macht. So hat sich Chateau-d'Oex als Mekka für Heissluftballons etabliert, die nächsten setzen auf Langlauf und wer höher liegt, macht Alpin-Ski. Von einer solchen Aufteilung profitieren alle. Wer aber nichts macht, verliert.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Das sagt sich so leicht. Im Wallis finden sich eindrucksvolle Berge und idyllische Orte wie Zermatt, aber unten im Tal … da will doch keiner Ferien machen.
Das Tal ist ein idealer Ausgangsort für den Ganzjahrestourismus. Sie haben Zermatt angesprochen. Eigentlich wintersicher. Dort wollte man Ende Oktober, Anfang November Ski-Weltcup-Rennen durchführen. Doch sie mussten wegen Schneemangel abgesagt werden. Es geht nicht so sehr darum, ob wir eine Veränderung möchten oder nicht. Wir haben schlichtweg keine andere Wahl als uns anzupassen.

Trotzdem, wie könnte diese Anpassung aussehen?
Unsere Tourismusorte sind das ganze Jahr schön. Das müssen wir ausnützen. Lenzerheide macht es vor. In der Bündner Ortschaft sind der Frühling und der Herbst gestärkt worden. In Lenzerheide geht es Ende Herbst nahtlos vom Bike-Tourismus in den Schneetourismus über. Die Hotels richten sich auf einen Vier-Jahreszeiten-Betrieb aus.

Die Hotels profitieren also davon, dass sie nicht nur im Sommer und im Winter Gäste haben.
Nicht nur! Das bietet auch neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wer Angestellten Ganzjahresverträge anbieten kann, steht im Wettstreit um Fachkräfte besser da als reine Saisonbetriebe. Aber dafür müssen die Hotels und die Bahnen zusammenspannen. Es darf nicht mehr passieren, dass wir im Oktober schönstes Bergwetter haben, aber viele Hotels geschlossen sind und Bahnen stillstehen.

Offenbar lohnt sich das Geschäft nicht.
Oder hat es sich bloss früher nicht gelohnt? Der Klimawandel beschert uns nicht nur viel heissere Sommer. Die Herbstsaison geht nun auch viel länger. Werden unsere Gäste nicht eher das schöne Herbstwanderwetter in den Bergen geniessen, als im Nebel zu sitzen?

Es ist im Winter ja nicht ständig neblig und mittlerweile haben doch alle Schneekanonen.
Ist das die alleinige Lösung? Erstens muss es für Kunstschnee kalt sein. Zweitens ist der Energieverbrauch der Schneekanonen hoch und drittens wird selbst im Wasserschloss Schweiz das Wasser zunehmend zum limitierenden Faktor. Das Wasser muss aber für alle reichen: als Trinkwasser, für die Landwirtschaft, zur Energiegewinnung, aber eben auch für den Tourismus.

Ein Bergler für die Berggebiete

Der 55-jährige Geograf und Politikwissenschaftler Thomas Egger sass für die Mitte-Partei im Nationalrat. Der Walliser leitet seit 2002 die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) in Visp als Direktor.

Urs Lindt/freshfocus

Der 55-jährige Geograf und Politikwissenschaftler Thomas Egger sass für die Mitte-Partei im Nationalrat. Der Walliser leitet seit 2002 die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) in Visp als Direktor.

Jetzt machen Sie ein neues Fass auf.
Die Erderwärmung hat Folgen für uns alle. Wenn wir über Zukunftsstrategien reden, müssen wir auch an multifunktionale Wasserspeicher denken. Stauseen sind wichtig zur Stromgewinnung. Aber wir müssen im Sommer auch die Wiesen bewässern, im Winter Schneekanonen betreiben, es braucht Löschwasserreserven – und übers ganze Jahr Trink- und Verbrauchswasser. Hier könnten auch die Gletscherseen, die sich durch den Rückzug unserer Gletscher bilden, eine wichtige Rolle spielen.

Hier müsste doch der Bund aktiv werden.
Der Bund hat das Problem als Antwort auf einen Vorstoss des Mitte-Ständerats Beat Rieder an die Kantone abgeschoben. Natürlich macht es sich Bern hier etwas gar einfach. Aber es stimmt auch, dass Gemeinden und Kantone selbst aktiv werden und vielleicht mal einen mutigen Entscheid fällen müssen.

Zum Beispiel?
Die Stockhorn-Bahn hat den Ski-Alpin-Tourismus eingestellt. Man spezialisiert sich auf Gäste, die für Schneeschuh-Touren und Winterwanderungen kommen. Das bewährt sich. Oder nehmen Sie den Monte Tamaro im Tessin: 2003 hat man sich dort entschlossen, den Wintertourismus völlig aufzugeben. Dafür hat man voll in den Sommer investiert. Man setzt auf Angebote wie Wandern und Sommerrodeln. Inzwischen generiert man übers Jahr ein Drittel mehr Umsatz als zuvor.

Einige Wintersportorte werden auf der Strecke bleiben.
Vermutlich ja – aber vor allem diejenigen, die sich nicht bewegen. Es gibt für alle eine Nische. Man muss nur bereit sein, danach zu suchen – und zwar rasch. Im Tourismus war es immer so, dass derjenige, der mit einem guten Angebot den Anfang macht, ein riesiges Marktpotenzial abschöpft. Wer die tausendste Hängebrücke erstellt, lockt keine neuen Gäste mehr an. Deutschland und Österreich haben erfolgreich auf Wellness gesetzt, die Schweiz hat extrem lange nur zugeschaut. Jetzt braucht es aber neue Ideen. Um Neues auf den Weg zu bringen, läuft nun das Projekt «Beyond Snow» an.

Was ist das für ein Projekt?
Es sollen neue Entwicklungsmöglichkeiten gefunden werden für Gebiete, die sich Gedanken über ihre Zukunft machen. 13 Partner aus dem gesamten Alpenraum sind dabei. Bei uns beteiligt sich die Destination Sattel-Hochstuckli in der Zentralschweiz daran. Zusammen mit den Leuten vor Ort soll wie in einem Laboratorium herausgefunden werden, wohin die Reise geht. Die Einheimischen kennen ihr Gebiet doch am besten. Sie wissen, was sich eignet.

Was könnte das sein?
Ich sehe beispielsweise riesige Potenziale im Gesundheitstourismus. Die Bevölkerung wird immer älter. Sie wird gesundheitsbewusster. Und die heutigen Senioren sind aktiver und oft wohlhabend. Wir sprechen von Silver Tourism, also Angebote für Touristen im fortgeschrittenen Alter. Hier eröffnen sich auch Möglichkeiten, das kulinarische Angebot jeder Region noch besser in Wert zu setzen. Oder schauen Sie, wie viele asiatische Touristen wieder zu uns kommen. Sie wollen die Berge sehen und einmal im Leben Schnee in die Hand nehmen, aber nicht Skifahren. Wenn die Akteure vor Ort sich einig werden, auf welches Angebot sie setzen möchten, ist vieles möglich.

Wenn man Sie reden hört, könnte man meinen, die Klimaerwärmung sei die grosse Heilsbringerin, die unseren Tourismus reformiert.
Es ist schon so, dass in einer Krise auch eine Chance liegt. Wir haben ja gesehen, dass während Corona die Schweizerinnen und Schweizer wieder vermehrt bei uns Ferien verbracht haben. Plötzlich waren die Deutschschweizer wieder im Tessin, die Städter in den Bergen und die Westschweizer erstmals im Appenzellerland. Diesen Schwung sollten wir nun nutzen. Zudem gab es einen Boom auf Ferienwohnungen. Gerade die Ferienwohnungsbesitzer sind dabei besonders spannend.

Wieso?
Die Zweitheimischen bringen gute Ideen mit. Sie sind oft die treuesten Gäste und wissen die Schönheit ihrer Wahlheimat zu schätzen. Sie sind auch bereit, sich freiwillig zu engagieren oder sich finanziell einzubringen. Ich plädiere dafür, möglichst alle mitzunehmen, vor allem aber: Wir müssen uns jetzt auf den Weg machen.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?