Die Zahl der Grenzgänger hat einen neuen Höchststand erreicht. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) pendelten Ende 2022 gut 375'000 Menschen täglich aus dem Ausland in die Schweiz. Allein im letzten Jahr kamen nochmals 20'000 hinzu, dies entspricht einem Zuwachs von 6,1 Prozent. Mit Abstand meisten Grenzgänger kommen aus Frankreich, gefolgt von Italien und Deutschland.
Westschweiz und Tessin ziehen an
Besonders attraktive Kantone sind Genf – dieses verzeichnete mit 7300 Grenzgängern mehr ein Plus von ganzen 7,6 Prozent –, Waadt (3900; +10,6 Prozent) und das Tessin (3300; +4,4 Prozent). Fast 60 Prozent der Grenzgängerinnen und Grenzgänger arbeiten in einem dieser drei Kantone.
Deren Wirtschaft kann auf die Ausländer nicht verzichten. Die befürchtete Rezession durch den Ukraine-Krieg ist bislang ausgeblieben, statt Arbeitslosigkeit herrscht Fachkräftemangel. Beispiel Tessin: Dort ist mittlerweile jeder dritte Erwerbstätige ein Grenzgänger.
Umstrittene Zahlen
Fabio Regazzi (60), Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands und Tessiner Mitte-Nationalrat, traut den Zahlen des Bundes aber nur teilweise. Ehemalige Grenzgänger seien nicht dazu verpflichtet, sich abzumelden, wenn sie ihren Job in der Schweiz kündigen und wieder im Heimatland oder anderswo arbeiten. Womöglich sind also viele Menschen noch als Grenzgänger registriert, obwohl sie das längst nicht mehr sind.
Dies wäre eine Erklärung dafür, dass deren Anzahl kontinuierlich steigt. Selbst während der Pandemie, als ganze Länder im Lockdown waren und viele Branchen Homeoffice hatten. Doch auch Regazzi gibt unumwunden zu: «In einigen Branchen im Tessin sind Grenzgänger unentbehrlich. Spitäler, Pflegezentren, die Baubranche und das Gewerbe könnten ohne sie nur schwer überleben.»
Konkurrenz trotz Mindestlohn
Doch Grenzgänger führen in den betroffenen Regionen auch zu Unmut – die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und tägliche Grenzstaus tragen dazu bei. Auch Regazzi redet von «offensichtlichen Problemen wie Lohndumping oder vermehrten Staus auf den Strassen. Die einheimische Bevölkerung ist Grenzgängern gegenüber oft kritisch eingestellt». Das Thema wird daher in den Randregionen auch zukünftig ein Politikum bleiben.
Nur: Das Lohndumping-Argument verfängt zumindest in den attraktiven Grenzkantonen Genf und Tessin nur bedingt. Denn beide haben seit längerer Zeit einen Mindestlohn eingeführt. In Genf beträgt dieser 23 Franken pro Stunde, im Tessin immerhin noch 19 Franken pro Stunde.
Was taugt der Mindestlohn?
Wirtschaftsvertreter bezweifeln jedoch, dass dies den gewünschten Effekt hat: Auch wenn es noch zu früh dafür sei, ein abschliessendes Urteil über die Einführung des kantonalen Mindestlohns zu fällen – Luca Albertoni (58), Präsident der Tessiner Handelskammer, sagt: «Mit dem Mindestlohn, der über 70 Prozent Grenzgänger betrifft, ist der Kanton für Arbeitnehmer aus dem Ausland noch attraktiver geworden.»
In den Tieflohnbranchen mag der Mindestlohn das Lohndumping-Risiko entschärft haben – doch es sind längst nicht nur solche Branchen, die Grenzgänger anlocken: Auch die Rohstoffhandels-Cluster und spezialisierte Dienstleistungsunternehmen stellen zunehmend Ausländer ein. Und die kommen vielleicht auch für 19 Franken die Stunde.