«Im Moment hat die Schweiz die Lage noch im Griff»
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Epidemiologe Marcel Salathé:«Im Moment hat die Schweiz die Lage noch im Griff»

Epidemiologe und Bundesrat-Kritiker Marcel Salathé ganz handzahm
«Im Moment hat die Schweiz die Lage noch im Griff»

Marcel Salathé ist überzeugt: Eine Reaktion auf kantonaler Ebene ist der richtige Weg. Lokale Massnahmen seien sinnvoller. Und der Epidemiologe glaubt, dass die Nutzerzahlen der Corona-Warn-App noch steigen werden.
Publiziert: 09.08.2020 um 23:04 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2020 um 10:52 Uhr
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Epidemiologe Marcel Salathé am Campus Biotech in Genf. Er ist das Gesicht hinter der Corona-Warn-App.
Foto: Lundi 13
Interview: Gianna Blum, Bilder: Nicolas Righetti

Von einem Treffen bei seiner Arbeitgeberin, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, rät Epidemiologe Marcel Salathé (44) ab – zu heiss wird es mitten in der Hitzewelle. Besser gekühlt ist der Campus Biotech in Genf, wo Salathé sein Büro hat. Im Lauf der Corona-Pandemie hat sich Salathé vor allem als scharfer Kritiker des Bundesrats einen Namen gemacht und viel Medienaufmerksamkeit bekommen. Vom Rampenlicht scheint er aber genug zu haben: Im Gespräch mit BLICK gibt sich Salathé handzahm – und überzeugt vom Schweizer Weg.

BLICK: Herr Salathé, Sie sind wieder aus den Ferien zurück. Wo waren Sie?
Marcel Salathé: Teilweise in der Schweiz und teilweise in Spanien – in Katalonien. Ich habe versucht, ein bisschen digitalen Detox zu machen.

Isolieren Sie sich jetzt? Schliesslich werden viele Fälle eingeschleppt – und Spanien entwickelt sich doch gerade erneut zum Corona-Hotspot.
Als ich abgereist bin, war das noch kein Problem. Ich bin schon seit zwei Wochen zurück, und Spanien war da noch nicht auf der Liste der Risikoländer.

Auch in der Schweiz sind die Corona-Fallzahlen so hoch wie zuletzt im April. Sind wir in der zweiten Welle?
Ich glaube nicht. Sowieso rede ich lieber nicht von einer «Welle». Das ist kein gutes Bild, weil man gegen eine Welle nichts machen kann. Ich rede lieber von einem Brand beziehungsweise einem Brandherd: Jede Infektion ist quasi ein Funken, der sich lokal ausbreitet. Doch wenn man richtig reagiert, kann man einen Flächenbrand verhindern. Was wir tun müssen, ist, die einzelnen Kleinbrände unter Kontrolle zu halten.

Sind sie das? Hat die Schweiz die Lage noch im Griff?
Im Moment habe ich das Gefühl ja. Die Zahlen steigen zwar, aber immer noch auf relativ langsamem Niveau. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Kantone das Contact Tracing im Griff haben. Sobald man Stresssignale kriegt, dass sie die Kontrolle verlieren, würde das problematisch werden.

Macht es denn Sinn, dass jeder Kanton sein eigenes Süppchen kocht, was die Regeln betrifft?
Ich finde: ja. Das Problem am Lockdown war, dass er die gesamte Schweiz unter Quarantäne gesetzt hat. Es ist viel vernünftiger, lokale Massnahmen zu treffen. Ich würde so wenig wie möglich national regeln. Klar, es gibt einzelne Massnahmen wie die Maskenpflicht im ÖV, die kann man nicht auf kantonaler Ebene einführen, der Entscheid des Bundesrats war da vernünftig.

Sie zeigen sich sehr überzeugt vom aktuellen Schweizer Weg. Das hat am Anfang der Krise noch anders geklungen, als Sie zu den lautesten Kritikern gehört haben. Mal ehrlich: So schlecht hat es bis zum Sommer nicht funktioniert – die Zahlen sanken schnell und nachhaltig.
Das sehe ich genau gleich! Ganz am Anfang wurde das Virus unterschätzt – hinter dieser Aussage stehe ich nach wie vor. Mir ging es darum, aufzuzeigen, dass dieses Virus deutlich gefährlicher ist als eine Grippe. Das war keine Kritik, dass der Bundesrat etwas falsch gemacht hat. Ich meinte es mehr im Sinn einer wissenschaftlichen Richtigstellung.

Sie haben einmal den viel zitierten Satz getwittert, dass bei der Aufarbeitung der Krise politisch kein Stein auf dem anderen bleiben werde. Danach sieht es nicht aus, oder?
Das wurde falsch interpretiert. Ich meinte, dass es wichtig sein werde, quasi unter jeden Stein zu schauen. Dass wir verstehen müssen, wie wir diese historische Krise überwunden haben. Dafür reicht ein Tweet von 280 Zeichen aber nicht.

Persönlich

Marcel Salathé (44) ist Spezialist für Digitale Epidemiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Er hat in Basel studiert und an der ETH Zürich doktoriert. Nach einem achtjährigen Aufenthalt in den USA an den Universitäten in Stanford und Pennsylvania kehrte Marcel Salathé 2015 an die EPFL zurück. Salathé ist Mitglied der Taskforce Covid-19, des wissenschaftlichen Corona-Beirats von Bund und Kantonen, wo er der Expertengruppe Digital Epidemiology vorsteht.

Marcel Salathé an seinem Arbeitsort Campus Biotech in Genf.
Lundi 13

Marcel Salathé (44) ist Spezialist für Digitale Epidemiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Er hat in Basel studiert und an der ETH Zürich doktoriert. Nach einem achtjährigen Aufenthalt in den USA an den Universitäten in Stanford und Pennsylvania kehrte Marcel Salathé 2015 an die EPFL zurück. Salathé ist Mitglied der Taskforce Covid-19, des wissenschaftlichen Corona-Beirats von Bund und Kantonen, wo er der Expertengruppe Digital Epidemiology vorsteht.

Sie haben immer wieder betont, wie wichtig das Nachverfolgen von Infektionsketten sei. Aber bei einem Grossteil der Fälle lässt sich offenbar nicht feststellen, wo sich die Leute angesteckt haben. Scheitert die Strategie gerade?
Information über den Ansteckungsort ist für gezielte Interventionen wichtig. Aber noch wichtiger als das Wo ist das Wer. Solange man die Personen, die dem Virus ausgesetzt waren, informieren kann, solange kann man die Infektionsketten unterbrechen. Aus diesem Grund funktioniert auch die Swiss-Covid-App ohne jegliche Standortdaten.

Dann reden wir doch über die Swiss-Covid-App. Seit etwas mehr als einem Monat ist sie im Einsatz. Sind Sie zufrieden?
Ja, sehr. Zwei Millionen Downloads innert eines Monats! In jeder anderen Situation würde man da die Champagnerkorken knallen lassen, nur sind wir natürlich nicht in Festlaune. Aber man darf Pause machen und sagen, das war ein guter Anfang. Klar, die Effizienz hängt stark davon ab, wie viele Leute sie brauchen, da wollen wir natürlich schon vorwärtsmachen.

Aktiviert haben die App erst etwa eine Million Menschen …
Ich bin sicher, wir werden das noch erhöhen können – sowohl die Downloads wie auch die Aktivierungen. Im Moment haben wir, glaube ich, ein Kommunikationsproblem. Wir müssen klarer machen, dass niemand getrackt wird. Teilweise verstehen die Leute die App noch nicht so ganz.

Einer davon ist SVP-Bundesrat Ueli Maurer. «Komme nicht draus», sagte er.
Das ist letztlich Kundenfeedback. Ein Bundesrat ist schliesslich ein Volksvertreter: Das heisst für mich, dass ein grosser Teil der Bevölkerung nicht recht drauskommt. Also müssen wir besser erklären.

Sie sind sehr überzeugt, dass sich die Nutzerzahlen der App noch steigern lassen. Aber nach anfänglichem Enthusiasmus gehen diese zurück.
Das ist normal. Eine grosse Nachfrage bei einer Neueinführung gibt es immer, und die lässt auch immer nach. Wenn erste Erfolgsgeschichten kommen, werden die Leute auch besser verstehen, was der Nutzen wirklich ist. Ich würde mir wünschen, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung die App aktiviert. Wir müssen einfach noch klarer machen, dass das keine staatliche Überwachung ist – dafür haben wir uns ja international eingesetzt.

Kommen wir zu einem allgemeineren Thema. Finden Sie eigentlich, dass die Epidemiologen einen guten Job gemacht haben? Viele meinen, Sie und Ihre Kollegen seien einfach Zahlenakrobaten im Elfenbeinturm mit wenig Anschluss an die Realität.
Ich würde mir wünschen, dass die Leute, die das kritisieren, die Originalarbeiten lesen und genau schauen, was eigentlich gemeint ist. Zugegeben: Bei Voraussagen gibt es nun einmal Unschärfen. Am Anfang gab es alle drei Tage eine Verdoppelung – und ich glaube, das Konzept des exponentiellen Wachstums wurde vielleicht auch zu wenig verstanden.

Wie geht es in der Schweiz weiter mit Corona?
Prophet spielen wäre gefährlich! Am Anfang konnte sich das Virus in der Bevölkerung im «Normalmodus» ausbreiten. Ich weiss noch, dass ich die Zahlen jeweils fast nicht glauben konnte. Es war beängstigend, wie präzise die Kurve da exponentiell nach oben ging. Jetzt ist die Situation viel chaotischer – und zwar im positiven Sinne. Ich hoffe aber schon, dass wir die Zahlen bis Ende Sommer wieder in den zweistelligen Bereich bringen. Im Herbst und Winter wird sich das Virus besser verbreiten, weil wir alle viel mehr drinnen sein werden. Trotz allem darf man nicht vergessen: Auch diese Krise wird vorbeigehen.

Wenn es einen Impfstoff gibt?
Ganz genau. Ich bin sicher, die sogenannte neue Normalität, die wir jetzt haben, wird nicht bleiben, auch wenn viele das nicht glauben. Vielleicht wird es ein bisschen mehr Digitalisierung und ein bisschen mehr Homeoffice geben. Aber die Partys und die grossen Konzerte wird es wieder geben. Ich freue mich jedenfalls darauf.

Bekommen Corona-Kranke ihren Code?

Wer positiv auf Corona getestet wird, erhält vom Kantonsarzt einen Code. Sobald dieser in die Swiss-Covid-App eingetippt wird, sollten alle Menschen, mit denen man in Kontakt war, gewarnt werden. Nur: Was, wenn der Code nie kommt? So passiert ist das Johannes Schwarzer, wie er auf Twitter schreibt. Seinen positiven Test hat er in Genf gemacht, wie Schwarzer auf Anfrage zu BLICK sagt. Er habe nur milde Symptome gehabt. Aber: «Mein Test ist schon eine Woche her und ich warte immer noch auf den Code.»

Beim Kanton Genf war am Sonntag niemand für eine Stellungnahme erreichbar. Auf Twitter reagiert hat Epidemiologe Marcel Salathé: Der Fall müsse schleunigst aufgeklärt werden. Über den Twitterkanal der App antwortet auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG): Schwarzer solle den Code vom Kanton anfordern.

- Gianna Blum

Wer positiv auf Corona getestet wird, erhält vom Kantonsarzt einen Code. Sobald dieser in die Swiss-Covid-App eingetippt wird, sollten alle Menschen, mit denen man in Kontakt war, gewarnt werden. Nur: Was, wenn der Code nie kommt? So passiert ist das Johannes Schwarzer, wie er auf Twitter schreibt. Seinen positiven Test hat er in Genf gemacht, wie Schwarzer auf Anfrage zu BLICK sagt. Er habe nur milde Symptome gehabt. Aber: «Mein Test ist schon eine Woche her und ich warte immer noch auf den Code.»

Beim Kanton Genf war am Sonntag niemand für eine Stellungnahme erreichbar. Auf Twitter reagiert hat Epidemiologe Marcel Salathé: Der Fall müsse schleunigst aufgeklärt werden. Über den Twitterkanal der App antwortet auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG): Schwarzer solle den Code vom Kanton anfordern.

- Gianna Blum


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