Sie sind am Limit: «Wir befürchten, dass das Pflegepersonal nicht mehr lange durchhalten kann», sagt Yvonne Ribi (44) vom Verband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK). Wann genau das Limit erreicht sei, kann sie nicht vorhersagen. Doch es gehe nur um «Wochen und nicht um Monate». Denn die Situation verschlechtere sich derzeit dramatisch.
Warnruf an die Politik
In einem Brief, der BLICK vorliegt, fordert der Pflegeverband beim Bundesrat und sämtlichen Kantonsregierungen eindringlich Hilfe. «Viele Pflegende sind schon jetzt am Ende ihrer Kräfte angelangt.» Geschehe nichts, drohe demnächst eine «Überforderung und Überlastung» des Gesundheitswesens.
Gesundheitsminister Alain Berset (48) persönlich bestätigt die dramatische Situation: Er sei in letzter Zeit in mehreren Spitälern gewesen. «Im März wurde dem medizinischen Personal applaudiert. Aber: Die Situation ist jetzt viel schlimmer. Jetzt laufen diese Leute auf dem Zahnfleisch», sagte er am Donnerstag im BLICK-Interview.
Die Konsequenz davon scheint klar. «Die Menschen erhalten nicht mehr die Pflege, die sie eigentlich bräuchten», so Ribi. Das führe zu menschlichem Leid – und zu noch mehr Toten. Und die Schweiz hat derzeit bereits jeden Tag rund 80 Todesopfer zu beklagen.
Kontakt nur noch per Telefon
«Damit die Pflege die nächsten Wochen übersteht, muss jetzt alles getan werden, um die Fallzahlen zu senken», sagt die SBK-Geschäftsleiterin. Es brauche national einheitliche, einfache und klare Massnahmen. Und hier hat der Pflegeverband bereits konkrete Forderungen an die Politik:
- Die Bevölkerung soll angewiesen werden, Menschen, die nicht im selben Haushalt leben, nur noch per Telefon oder Videokonferenz zu kontaktieren.
- Spitäler, Alters- und Pflegeheime sollen ihre Mitarbeitenden lokal, regional und überregional koordinieren.
- Den überlasteten Institutionen soll zusätzliches Pflegepersonal bereitgestellt werden.
- Die Pflegenden sollen durch den Zivildienst, den Zivilschutz und – falls nötig – durch das Militär unterstützt werden.
- Spitäler seien für die Verschiebung oder die Absage von Operationen finanziell zu entschädigen.
Heute berät der Bundesrat über die Verschärfung der Corona-Regeln, die ab Samstag in Kraft treten sollen. Angedacht ist etwa die Schliessung der Restaurants ab 19 Uhr oder eine Fünf-Personen-Obergrenze für private Treffen. Sollte sich die Situation nicht verbessern, zieht die Regierung gar einen Lockdown vor Weihnachten in Betracht.
Alte Menschen sind einsam
«Klar ist: Die Corona-Krise ist nicht nur für die Pflegenden, die Überstunden leisten und sich nicht selten selber mit dem Virus infizieren, eine grosse Belastung», sagt Ribi. Die alten Menschen in den Pflegeheimen litten seit Monaten darunter, ihre Liebsten kaum sehen zu können. Viele spürten die Einschränkungen auch körperlich, weil sie sich kaum mehr bewegen dürfen.
Hinzu kommt, dass es insbesondere in der zweiten Welle an Pflegepersonal fehlt. «Das Parlament hat das Problem zwar erkannt, Lösungen gibt es aber bis heute keine», sagt Ribi. Gerade in der Betreuung von schwerkranken Menschen – in der sogenannten Palliative Care – hätten die wenigen Pflegenden heute kaum Zeit, die Menschen beim Sterben zu begleiten.