«Polarisierung ist nicht die Lösung der Probleme unserer Zeit»
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Bundespräsidentin Amherd:«Polarisierung ist nicht die Lösung der Probleme unserer Zeit»

Die 1.-August-Reden der Bundesräte: Was sie direkt sagen und was sie zwischen den Zeilen mitteilen
Die offenen und versteckten Botschaften unserer Bundesräte

Keller-Sutter schwört auf Raclette in New York, Rösti bremst und gibt Gas, Cassis warnt vor zu viel politischer Korrektheit und Amherd sorgt für Ferienstimmung. Was die sieben Bundesräte an ihren 1.-August-Reden sagen wollten und was sie zwischen den Zeilen verrieten.
Publiziert: 01.08.2024 um 19:05 Uhr
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Aktualisiert: 01.08.2024 um 22:23 Uhr
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1.-August-Feier mitten in Manhattan: Karin Keller-Sutter hält Rede im Finanzdistrikt.
Foto: PETER LueDERS
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Wenn es um 1.-August-Reden geht, kennen die Bundesräte keine Grenzen, auch keine Landesgrenzen. Während sechs der sieben Bundesräte landauf, landab teils mehrmals auftraten (Rösti siebenmal), wählte Karin Keller-Sutter für ihre diesjährige Rede zur Bundesfeier einen aussergewöhnlichen Ort: New York. Blick hat die Reden der sieben Mitglieder der Landesregierung unter die Lupe genommen.

Karin Keller-Sutter (60): Raclette-Demokratie in New York

Zu Gast in: New York mit Bürgermeister Eric Adams (63), zusammen mit Schweizern und Auslandschweizern.

Ihre Botschaft: Die USA und die Schweiz sind seit ihrer Gründung Erfolgsgeschichten bis heute. Der Erfolg der liberalen Demokratien misst sich nicht nur am Wohlstand, sondern auch an der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit. Keller-Sutter ruft auf, das Vermächtnis unserer Gründerväter zu verteidigen und zu pflegen.

Das Zitat: «One person, one slice.» Eine Person, eine Scheibe. Und zwar eine Raclette-Scheibe. In Anspielung auf das Gleichheitsprinzip «ein Mensch, eine Stimme» nennt die FDP-Bundesrätin augenzwinkernd Raclette als ein «sehr demokratisches Gericht - wenn es richtig serviert wird» und lädt damit zum wohl ersten offiziellen Raclette-Essen im Finanzdistrikt New Yorks.

Zwischen den Zeilen: «Populisten feiern Wahlsiege», mahnt Keller-Sutter. Das sei ein Weckruf an die moderaten politischen Kräfte und ein Aufruf, den Leuten zuzuhören. Die Schweizer Finanzministerin hütet sich, die Warnung vor Populisten zu konkretisieren. Doch wer denkt bei diesen Worten in Manhattan nicht auch an Donald Trump?

Albert Rösti (56): Gas geben und abbremsen

Zu Gast in: Wimmis BE, Rothrist AG, Schöftland AG, Rümlang ZH, Ossingen ZH, Kesswil TG. Wilderswil BE.

Seine Botschaft: «Die Schweiz hat die beste Staatsordnung der Welt.» Aber die Schweiz vertrage keine Hauruck-Übungen. Das spüre auch er als Energieminister. Er müsse schnell vorwärtsmachen, weil es dringend mehr Energie brauche, aber man müsse die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Diese ruft er auf, sich zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen, das Gesamtwohl im Auge zu haben und nicht die kurzsichtige Selbstoptimierung.

Das Zitat: «Halt, so nicht! Zurück an den Absender!» Mit dem Referendum könnten die Bürger jederzeit auf die Bremse treten, wenn ihnen ein Entscheid aus Bern nicht passt. Umgekehrt, so Rösti ganz im Autofahr-Modus, haben die Bürger mit der Volksinitiative die Möglichkeit, Gas zu geben, wenn sie finden, in einer wichtigen Frage passiere nichts.

Zwischen den Zeilen: Die Bevölkerung reagiere sensibel, wenn der Eindruck entstehe, ihre Rechte würden beschnitten, sagt der SVP-Bundesrat. «So sind auch bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU die Volksrechte zu achten.» Ein Wink an Kollege Beat Jans, der in einem NZZ-Gastbeitrag schrieb, die Schweizer Souveränität würde gestärkt mit einem neuen EU-Vertrag?

Viola Amherd (62): Ferienstimmung mit Walliserdialekt

Zu Gast in: Möriken-Wildegg AG.

Ihre Botschaft: Wir sind alle verschieden und leben in einem Land mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, aber wir beziehen alle mit ein, wir schaffen es nur gemeinsam. Diese Selbstverständlichkeit mache unser Land aus. Amherd: «Polarisierung ist nicht die Lösung.»

Das Zitat: «Ich hoffe, ich bringe mit meinem Dialekt auch etwas Ferienstimmung zu Ihnen.» Auf Wunsch der Gastgebergemeinde hält Amherd ihre Ansprache nämlich auf Walliserdeutsch.

Zwischen den Zeilen: Wie sehr die Klimaerwärmung für die jüngsten Unwetter im Wallis und Tessin verantwortlich ist, darüber wird politisch hitzig debattiert. Die Mitte-Bundesrätin lässt keine Zweifel offen, wo sie steht, wenn sie sagt: «Wir haben die Wucht des Klimawandels gespürt.»

Ignazio Cassis (63): Sind wir noch fit genug?

Zu Gast in: Guarda GR, Sessa TI.

Seine Botschaft: Das Wohlergehen der Schweiz hängt auch von unserem Gemeinsinn ab. Cassis stellt infrage, wie «fit und lebendig» der noch ist. Er kritisiert das kurzfristige Denken. Bei aller Kritik ist Cassis zuversichtlich: «Wir haben das Glück, etwas tun zu können. Wir können weiterhin die Schweiz wollen.»

Das Zitat: «Unsere grossen Nachbarn sind immer noch unsere grossen Nachbarn. Und die Diskussionen mit ihnen bleiben ein zentrales Thema unserer Aussenpolitik. Zum Glück sind sie aber nicht mehr so kriegerisch wie damals!» Der Aussenminister bezieht sich auf das 16. Jahrhundert, als die Rivalitäten zwischen Spanien und Österreich sowie Frankreich und Venedig Europa unsicher machten.

Zwischen den Zeilen: «Unsere Geschichte und unsere Errungenschaften dürften nicht gecancelt werden - im Namen der politischen Korrektheit oder einer illusorischen Gleichmacherei.» Wen meint der FDP-Bundesrat? Die Linken, die Woke-Bewegten? Angesprochen fühlen darf sich, wer will.

Beat Jans (60): Schweizer Politik ist wie Homöopathie

Zu Gast in: Schüpfen BE, Biberist SO

Seine Botschaft: Freiheit, Möglichkeiten und Chancen sind nichts wert, wenn wir sie nicht nutzen. Nicht die Faust im Sack machen, sondern selber mitmachen. Bei Wahlen, Abstimmungen, in Vereinen, im Quartier, in der Gemeinde.

Das Zitat: «In der Schweiz wird Macht geteilt, bis fast nichts mehr übrig bleibt. Es ist so etwas wie politische Homöopathie. Auch im Bundesrat.»

Zwischen den Zeilen: Heimat ist für den SP-Bundesrat dort, wo man sich frei fühlt, wo man seine Meinung sagen und teilhaben kann. Dabei sei es egal, ob hier geboren oder anderswo. Denn zu dem, was die Schweiz sei und biete, «haben auch ganz viele Zugewanderte beigetragen». Hat Jans gerade in Richtung SVP geschaut?

Guy Parmelin (64): Kein Grund, um sich zu schämen

Zu Gast in: Stein am Rhein SH, Luzern, Jussy GE.

Seine Botschaft: Die Schweiz darf stolz sein auf ihre Leistungen. Hohe Lebensqualität, Wirtschaftsleistung, Bildung, Sozialstaat, Forschung, direkte Demokratie: Der Wirtschaftsminister plädiert für mehr Selbstbewusstsein: «Wir tendieren dazu, uns kleiner zu machen, als wir sind. Wir brauchen uns nicht zu schämen.»

Das Zitat: «Als Bundesrat wird man nicht immer so freundlich empfangen wie hier. Manchmal bekommt man auch den Kopf gewaschen.»

Zwischen den Zeilen: Der SVP-Bundesrat spricht bei der Aufzählung von Herausforderungen in einem Nebensatz von der «Umweltpolitik, mit der die einen zufrieden sind, die anderen nicht». Weniger dringlich kann man das Thema Klimawandel kaum formulieren. Bei Kollegin Amherd (siehe oben) klang das dramatischer.

Elisabeth Baume-Schneider (60): Ein Holperzug, aber er fährt

Zu Gast in: Saint-Pierre-de-Clages VS, wegen Gewitter abgesagt: Rorschach

Ihre Botschaft: Die Schweiz spürt die Malaise von Polarisierung, Ohnmacht und Frustration ein bisschen weniger stark als andere Länder, weil wir das Gemeinsame immer wieder neu verhandeln. Gleichzeitig findet Baume-Schneider: Unser Gesellschaftsvertrag bröckelt. Es müsse unser Anspruch sein, dass es allen Menschen gut gehe in unserem Land.

Das Zitat: «Der Schweizer Zug bleibt nicht stehen, er entgleist nicht. Er fährt. Nicht wahnsinnig schnell. Ab und zu holpert es ein bisschen. Und manchmal neigt er sich etwas zu sehr in der Kurve. Aber er fährt. Und das ist schon ziemlich viel.»

Zwischen den Zeilen: Beim Plädoyer für einen gut ausgebauten Sozialstaat lässt es sich die SP-Bundesrätin nicht nehmen, die bürgerliche Finanzpolitik zu geisseln. Finanzielle Restriktionen höher gewichten als die Lebensrealität vieler Menschen könne unser Land schwächen. Im Klartext: Die Schuldenbremse darf kein Tabu sein, Sparen nicht das oberste Gebot.

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