Herr Nussbaumer, wie haben Sie es mit der Neutralität?
Eric Nussbaumer: Ich teile die Ansicht des Bundesrats: Wir müssen herausfinden, was Neutralität bedeutet in einer sich rasant ändernden Welt. Ich bin nicht der Typ, der sich dieser Diskussion verweigert und sagt, wir benötigten eine immerwährende, unantastbare Neutralität.
Was bedeutet das konkret?
Haltung zeigen, solidarisch sein, das Völkerrecht verteidigen! Wir können nicht abseitsstehen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Das Prinzip, sich aus allem herauszuhalten, was rund um uns herum auf der Welt geschieht, passt schlicht nicht mehr in die heutige Zeit.
Ich frage deshalb, weil Nationalratspräsidenten neutral sind und sich in politischen Debatten zurückhalten. Sie aber äussern sich weiterhin pointiert.
Es ist mir sehr wichtig, den Nationalrat unparteiisch und gerecht zu leiten. Aber natürlich bleibe ich dabei jener Politiker, der ich bin. Ein Jahr lang von Amtes wegen einfach zu schweigen, wäre ein falsches Verständnis meiner Funktion als Ratspräsident.
Ihrem Vorgänger Martin Candinas konnte man kaum je eine politisch gefärbte Aussage entlocken.
Es gibt diese anerkannte Gepflogenheit, dass man als Präsident über den Parteien steht. Ich werde Nahkämpfe mit anderen Politikern meiden. In der Ratsdebatte behalte ich meine Meinung für mich, doch ich lege sie niemals ab.
Sie gelten als europafreundlich. Der Bundesrat hat im Dezember das Mandat für Verhandlungen mit der EU präsentiert. Wo muss aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?
Es ist völlig klar: Der Binnenmarkt darf nicht missbraucht werden für Lohndumping. Die Fragen, die die Gewerkschaften stellen, sind also berechtigt. Entscheidend ist aber das Resultat. Es bringt nichts, sich vor Beginn der Verhandlungen schon querzustellen. Probleme mit Nachbarn soll man nicht liegen lassen – sondern lösen!
Was ist realistischer: Dass der FC Basel im nächsten Jahr den Ligaerhalt schafft oder dass wir ein Abkommen mit der EU bekommen?
Beides ist realistisch. Der FC Basel schafft den Ligaerhalt. Und ich hoffe, dass es 2024 zu einer Vertragsunterzeichnung mit der EU kommt. Die Ausgangslage ist gut.
Was passiert, wenn es doch nicht klappt?
Dann kommen bittere Zeiten auf uns zu. Ich habe einen Abstieg des FCB bereits einmal erlebt. Ein zweites Mal kann ich gut darauf verzichten.
Ich meinte mit der EU …
Finden wir keine Lösung mit der EU, schadet das unserem Standort. Die Schweiz befindet sich geografisch mitten in Europa. Sich dieser Realität entziehen zu wollen, scheint mir abwegig.
Als Basler haben Sie da vielleicht eine etwas andere Sichtweise als ein Urner.
Die Nordwestschweiz ist ein grenzüberschreitender Lebensraum. Jeden Tag überqueren Zehntausende die Grenze, um auf der anderen Seite zu arbeiten oder soziale Kontakte zu pflegen. Jetzt so zu tun, als wären wir eine Insel, würde diese Tatsachen ignorieren.
Müsste jeder Zentralschweizer einmal nach Basel reisen?
Mein Jahresmotto lautet: Grenzen überschreiten, Horizonte erweitern. Das gilt zuallererst für mich. Ich interessiere mich sehr für die Lebensrealität der Urner. Es gibt aber auch den umgekehrten Weg: Möglichst viele Menschen sollen erfahren, wie wichtig die Grenzregion Basel für den globalen Handel ist. Gemeinsam mit Ständeratspräsidentin Eva Herzog planen wir, im neuen Jahr die Botschafterinnen und Botschafter ans Rheinknie einzuladen, um ihnen das Potenzial unserer grenzüberschreitenden Region vorzustellen.
Sie haben jüngst Ihre erste Session als Nationalratspräsident absolviert. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Leistung?
Meine Amtszeit begann mit einem Highlight, der Bundesratswahl. Ich war angespannt und habe natürlich gehofft, keinen Fehler zu machen. Ich denke, das ist mir recht gut gelungen. Meine trockene und korrekte Art, den Rat zu leiten, wird offenbar geschätzt.
Sie klingeln seltener als Ihre Vorgänger. Haben Sie ein Autoritätsproblem?
Interessanterweise höre ich auch das Gegenteil. Jemand von der SVP kam neulich zu mir und meinte, ich solle nicht so oft klingeln, sonst werde es unangenehm. Ich schätze es, wenn die Gespräche in der Wandelhalle geführt werden. Und wenn vorne zum Beispiel die Verabschiedung einer Persönlichkeit aus Politik, Verwaltung oder Justiz stattfindet, erwarte ich Ruhe im Saal.
Mögen Sie eigentlich die Bezeichnung «höchster Schweizer»?
Die ist mir nicht so wichtig. Formell existiert der Titel auch gar nicht. Ich leite die Sitzung der Vereinigten Bundesversammlung, daraus ergibt sich das.
Ihr Stichentscheid während der Budgetdebatte sorgte immerhin dafür, dass es weniger Geld gibt für die Armee.
Wir sollen im Parlament ja nicht nur parlieren, sondern auch Entscheide herbeiführen. Es gehört zu meinem Pflichtenheft, diese Stichentscheide zu fällen. Darum bin ich aber nicht Präsident geworden. Und ich schlafe auch nicht besser oder schlechter deswegen.
Eine Weihnachtskarte von Armeechef Thomas Süssli haben Sie trotzdem nicht erhalten, nehme ich an.
Nein. Aber ich pflege einen guten Kontakt zu Herrn Süssli. So ist es in der Politik: Manche waren mir dankbar, gratulierten zum finanzpolitisch sorgfältigen Entscheid. Andere meinten, ich hätte alles kaputtgemacht.
Sie kennen den Nationalrat seit 16 Jahren. Was würden Sie ändern, wenn Sie könnten?
Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Redezeit die Leute mehr bewegt als das Argument, das sie dabei entfalten möchten.
Sind Politikerinnen und Politiker eitel?
Man kann das nicht verallgemeinern.
Sind Sie es selbst?
Ich glaube nicht. Aber ich liebe mein Amt und mag es nicht, wenn man uns Politiker quasi für unnötig erklärt in der Demokratie. Wenn Sie nun daraus folgern, ich sei eitel und würde meine Funktion überschätzen, müssen wir eine ganz lange Diskussion darüber führen, wo heute die Gefahren für die Demokratie lauern.
Nämlich?
Oft höre ich: Weshalb benötigt es überhaupt ein Parlament in einer direkten Demokratie, wenn doch das Volk zu allem das letzte Wort hat? Dabei gibt es nur dank der Vorarbeit im Parlament eine sorgfältige Abstimmungsdebatte.
Die zunehmende Polarisierung schadet dieser Debatte.
Man sieht es in den USA. Wenn es nur noch darum geht, die andere Seite zu schädigen, wenn Wahlresultate nicht mehr akzeptiert werden, dann ist das keine gute Entwicklung. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Politik dafür da ist, faire Lösungen für alle zu kreieren. Das geht nur mit Kompromissen. Sie zu finden, ist die Kunst der Politik.
Wie feiert der «höchste Schweizer» den Jahreswechsel?
Sehr gemütlich. Wir sitzen mit Freunden beisammen, essen, tauschen uns aus über das, was war, und das, was noch kommt. Oft gibt es eine Fragestellung. Heuer lautet sie: Was hätte ich anders gemacht, wenn ich etwas früher gewusst hätte? Und zum Schluss gibts Champagner.
Was hätten Sie denn anders gemacht?
Ich bin sehr zufrieden mit meinem bisherigen Leben. Natürlich wäre ich gern Regierungsrat geworden, zweimal sogar. Aber es verbittert mich nicht. Irgendwann muss man sagen: Es war gut so. l