Der 1. Mai ist der Tag der Gewerkschaften
Mitglieder schwinden, aber die Macht bleibt

In der modernen Arbeitswelt wirken sie oft aus der Zeit gefallen, aber am 1. Mai haben sie dennoch ihren festen, eigenen Tag, die Schweizer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Am 1. Mai demonstrieren sie ihre Stärke – während die Mitgliederzahl im Krebsgang ist.
Publiziert: 29.04.2023 um 13:41 Uhr
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Aktualisiert: 01.05.2023 um 00:58 Uhr
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Am Montag werden die Gewerkschaften wie hier in Zürich vor einem Jahr wieder durch die Strassen ziehen.
Foto: Keystone
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Sermîn FakiPolitikchefin

Am Montag ziehen sie wieder durch die Strassen: Zehntausende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Von Schaffhausen bis Bellinzona, von Chur bis Genf demonstrieren sie ihre Macht.

Eine Macht, die schwindet. Konnten 2005 alle Gewerkschaften noch 770'000 Mitglieder vorweisen, sind es heute 656'000. Das ist kein neues Phänomen. Die Schweizer Gewerkschaften verlieren seit Jahrzehnten Mitglieder.

Aus vielen Gründen: «Die Arbeitswelt ist heute kurzlebiger. Sie ist mehr in kleinere Firmen aufgeteilt. Und es gibt sechsmal mehr Temporärjobs als früher», nennt der Sprecher des Gewerkschaftsbunds (SGB) Urban Hodel einige. «Das erschwert die gewerkschaftliche Organisierung natürlich.»

Trotzdem mehr Macht

Schwindet auch die Macht? Nur auf den ersten Blick. Worauf Hodel und andere von Angestellte Schweiz bis Unia hinweisen: Sie verhandeln heute die Löhne und Arbeitsbedingungen für zwei Millionen Menschen, doppelt so viele wie vor 20 Jahren. Anders als damals gelten Gesamtarbeitsverträge (GAV) heute nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder, sondern meist für alle Mitarbeiter einer Branche.

Und Gewerkschaften gelten als Vetomacht. Politische Reformen, die die soziale Frage betreffen, gehen kaum an ihnen vorbei. Am 25. September war das anders. Da verloren sie ihren ersten Kampf seit Jahren. Ein wichtiger Kampf: Mit 50,5 Prozent hat die Schweiz Ja gesagt zur Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre.

Nach dem Kampf ist vor der Schlacht

«Die Niederlage bei der AHV-Abstimmung war schmerzhaft, ja», gibt Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (55) zu. Aber die Bürgerlichen hätten wegen des knappen Ausgangs ihre Agenda umstellen müssen: Ein geplanter weiterer Anstieg des Rentenalters sei so wohl vom Tisch. Und überhaupt: «Es ist nicht so, als hätten die Gewerkschaften jede Abstimmung gewonnen. Die Vetomacht des SGB, insbesondere in der Rentenfrage, ist heute eher grösser als früher.»

Und die nächste Schlacht steht an. Wohl am 3. März 2024 wird die Schweiz über das Referendum gegen die Pensionskassenreform, die Initiative für eine 13. AHV-Rente und die SP-Initiative für einen Plafonds für die Krankenkassenprämien abstimmen. Letztere wurde zwar von den Genossen lanciert, aber vom SGB geschrieben. Ein Grosskampftag für Maillard und die Seinen.

Kampf ist das richtige Wort. Denn die Auseinandersetzungen werden härter. Davon geht Valentin Vogt (62) aus. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes ist der natürliche Gegner Maillards, manchmal auch ein Verbündeter. Immer weniger allerdings, wie Vogt sagt: Als Maillard sein Amt als SGB-Boss 2019 antrat, sei die Zusammenarbeit sehr konstruktiv gewesen. «Leider hat sich das in den letzten Jahren mehr und mehr verschlechtert. Jetzt ist der Gewerkschaftsbund wieder so dogmatisch, wie er es unter Langzeitpräsident Paul Rechsteiner war.» Das sei bedauerlich. Die Schweiz stehe vor vielen Herausforderungen – wie Fachkräftemangel und Reform der zweiten Säule.

Keine Freude an der Sozialpartnerschaft

Das bringt Maillard auf die Palme: «Vogt hat Nerven!» Während er selbst den Kompromiss zur Pensionskassenreform durch alle Böden verteidigt und die eigenen Reihen geschlossen habe, hätten «die Arbeitgeber hingegen den Kompromiss hinter den Kulissen gezielt torpediert, sodass er im Parlament durchgefallen ist». Da vergehe die Freude an der Sozialpartnerschaft.

Aus Maillards Sicht radikalisiert sich die andere Seite – gerade mit der Forderung, die Schweizer sollten ihr Arbeitspensum erhöhen. Es sei ein «Skandal», dass man den Menschen in ihr Leben reinrede. Er hoffe, der Schiedsrichter in der direkten Demokratie – die Bevölkerung – sage bei den Wahlen im Herbst und bei der Abstimmung deutlich: «So nicht!»

Mehr Mitglieder

Diese Urnengänge werden die Gewerkschaften zur Mobilisierung nutzen. Und sie investieren seit Jahren in ihre Verbreitung in Branchen, die von Frauen geprägt sind, wie in den Detailhandel, die Pflege, in den Reinigungssektor, aber auch bei den Kitas, wie SGB-Sprecher Hodel sagt. Und: «Die Frauen brauchen starke Gewerkschaften.» Wenn sie sich besser organisierten, «dann geht es auch bei den Löhnen vorwärts». So steigt in diesen Branchen denn auch die Zahl der Mitglieder an.

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