Darum dauerte der Kampf der Frauen in der Schweiz so lange dauerte
Im Schneckentempo zur Selbstverständlichkeit

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz! Grund zur Freude? Nicht nur. Frauen in den USA konnten letztes Jahr schon ihr 100-Jahr-Jubiläum feiern. Wieso dauerte der Weg zur politischen Emanzipation in der Schweiz so lang?
Publiziert: 01.02.2021 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2023 um 17:18 Uhr
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Frauen in der Politik? Das können nur Schreckschrauben werden. Mit solchen Unterstellungen verhinderte man das Frauenstimmrecht in der Schweiz für mehr als 100 Jahre.
Noa Dibbasey

«Wenn jede Sürmel cha stimme idr Schwiz, warum söttet d Fraue nid au goh?», fragt ein älterer Herr im SRF-Regionalmagazin «Antenne» von 1963. Gute Frage.

Ganz egal, ob eine Frau studiert hatte, täglich zur Arbeit fuhr oder den Haushalt schmiss: Dass sie sich nicht am öffentlichen politischen Diskurs beteiligen durfte, das stand schon seit ihrer Geburt fest – so besagte es «die göttliche Ordnung» nun mal. Erst vor 50 Jahren änderte sich das. Mehr als doppelt so lange haben Schweizerinnen dafür gekämpft, endlich von den Männern ernst genommen zu werden. Ein Trauerspiel in fünf Akten.

1. Akt: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich»

23 Männer und 51 Tage braucht es, bis 1848 die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft steht. «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich», heisst es darin. Als erstes Land neben Frankreich gewährt man seinen Bürgern unabhängig von Status und Einkommen politische Rechte. Aber nicht allen: Schweizerinnen stehen – ebenso wie Juden und Jüdinnen – aussen vor.

Dass es sich dabei nicht einfach um eine ungünstige Formulierung handelt, zeigen mehrere Versuche von Frauen, die Verfassung anzufechten. So argumentiert die erste promovierte Juristin Europas, Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), im Jahr 1887, dass der Begriff «Schweizer» beide Geschlechter einbeziehe. Vor dem Bundesgericht hat die Nichte von «Heidi»-Autorin Johanna Spyri keine Chance.

Frauen sollen sich mit den drei K abgeben: Kinder, Kirche und Küche. Etwas besser ergeht es den bis dahin diskriminierten jüdischen Männern, sie dürfen ab 1866 im politischen Geschehen mitmischen.

2. Akt: «Unsere Welt ist unser Heim und sie soll es bleiben»

Nicht alle geben sich mit den drei K zufrieden. 1868 fordern Zürcherinnen das Stimmrecht auf kantonaler Ebene – aber nur im Schutz der Anonymität. Ihre Bemühungen bleiben ohne Erfolg. Ebenso wie die Forderungen der sich bildenden Frauenorganisationen. Eine 1929 lancierte Petition des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht mit 170'397 Unterschriften von Frauen und 78'840 von Männern wird vom Bundesrat in die Schublade versorgt – es gebe «dringendere Probleme» zu behandeln, lautet die Erklärung.

Gleich ergeht es diversen Sozialdemokraten, die im frühen 20. Jahrhundert Motionen zum kantonalen Frauenstimmrecht einreichen. Auch kantonale Abstimmungen scheitern kläglich vor dem Volk – die Gegner obsiegen mit ihren Plakaten von Schreckschrauben und verwahrlosten Babys.

Der Kampf gegen das Frauenstimmrecht ist jedoch nicht Männern vorbehalten. So wenden sich «Bürgerinnen, welche ihren Männern vertrauen» flehend an die Zürcher Männer, als es dort 1947 zur Abstimmung kommt: «Männer – Brüder – Söhne, bewahrt uns vor der Politik. Unsere Welt ist unser Heim und sie soll es bleiben.» Mit 77,65 Prozent lehnten die Zürcher Männer, Brüder und Söhne die Vorlage ab.

3. Akt: «Ein Volk von Brüdern ohne Schwestern»

1948 feiert die Schweiz ihre 100 Jahre alte Verfassung. Das Motto: «Schweiz, ein Volk von Brüdern.» Aus heutiger Sicht ein Affront. Die Frauenverbände sehen das schon damals so – und nennen das Fest kurzerhand «Ein Volk von Brüdern ohne Schwestern».

Für die Frauen gab es auch nichts zu feiern. 1948 kennen fast alle europäischen Länder ein Frauenstimmrecht. Die Ausnahmen sind Griechenland, San Marino, Monaco, Portugal, Liechtenstein – und eben die Schweiz. Im Nationalrat wird das Begehren immer noch als «absurde Idee» abgetan.

Neun Jahre später gelingt einer Walliser Gemeinde der erste Coup. Unterbäch führt als erstes Dorf der Schweiz das Frauenstimmrecht ein – trotz Verbot des Regierungsrats. 1958 zieht die Bürgergemeinde Riehen in Basel-Stadt nach. Gertrud Späth-Schweizer (1908–1990) wird im gleichen Jahr noch die erste weibliche Bürgerrätin im Land, die erste Schweizerin in einer politischen Behörde – erste Brüder halten zu ihren Schwestern.

4. Akt: Die direkte Demokratie bremst Frauen aus

13. Juni 1958: Gäbe es keine direkte Demokratie – müssten also Verfassungsänderungen nicht zwingend vors Volk gebracht werden –, hätten die Schweizer Frauen an diesem Tag jubeln können. Denn nach dem Ständerat nimmt an diesem Tag auch der Nationalrat die Vorlage des Bundesrats zur Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts an.

Grund für den Gesinnungswandel war eine Diskussion über eine Zivilschutzpflicht für Frauen – bei der diese nicht mitreden durften. Neue Pflichten akzeptieren, obwohl ihnen ihre politischen Rechte weiterhin verwehrt bleiben? Nicht mit den Schweizerischen Frauenstimmrechtsverbänden. Der Druck wurde grösser und grösser.

In den Räten war Mann sich gleichwohl sicher, dass die Vorlage vor dem Männervolk keine Mehrheit finden werde – und behielt recht. Am 1. Februar 1959 wird die erste eidgenössische Vorlage zum Frauenstimmrecht mit 66,9 Prozent abgelehnt. Nur drei Kantone sagen Ja: Waadt, Genf und Neuenburg. Auf kantonaler Ebene nimmt die Waadt das Frauenstimmrecht gleichzeitig an – die anderen beiden folgen kurz darauf. Für viele Frauen in diesen Kantonen ist das neu gewonnene Frauenstimmrecht gar ein Grund, nicht in die Deutschschweiz zu ziehen: «Jetzt, wo ich das Stimmrecht endlich habe, möchte ich es nicht mehr hergeben», sagt beispielsweise Frau Mäster, St. Gallerin, die in der Waadt lebt, in einem Radiobeitrag von 1963.

5. Akt: Ein grosser Sieg – mit schalem Nachgeschmack

Die immer noch währende Ignoranz, vor allem in der Deutschschweiz, reicht einigen jungen Frauen nun endgültig. Unter Andrée Valentin (heute 76) formiert sich 1969 in Zürich die radikalfeministische Frauenbefreiungsbewegung, der die alten Frauenbewegungen zu gemässigt sind. Sie stürmt am 10. November 1968 das Schauspielhaus, wo der Zürcher Frauenstimmrechtsverein sein 75-Jahr-Jubiläum zelebriert. Es sei nicht die Zeit zum Feiern, sondern zum Diskutieren.

Auf die Diskussionen folgen Taten: Am 1. März 1969 demonstrieren 5000 Frauen und Männer vor dem Bundeshaus, das Frauenstimmrecht soll endlich her. Angeführt wird der «Marsch nach Bern» von Emilie Lieberherr (1924–2011) – einer Frau, die nicht nur radikale Stimmrechtsvereine mobilisieren konnte, sondern auch konservative Frauenorganisationen vom Frauenstimmrecht überzeugt. Die Parlamentarier können dem Druck nicht weiter standhalten, sie müssen einen neuen Versuch zum Frauenstimmrecht in Gang bringen. Diesmal stehen alle Parteien hinter der Vorlage.

Und dann, endlich, nach einem über 121-jährigen Kampf – in dem frauenfeindliche Aussagen wie «Ungleiches soll nicht gleichgesetzt werden» fielen – sagen die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 mit 65,7 Prozent Ja zum Frauenstimmrecht. Als eines der letzten Länder weltweit entscheidet sich die Schweiz für die politische Gleichberechtigung.

Seit 50 Jahren also dürfen in unserem Land alle Schweizerinnen und Schweizer mitbestimmen. Am kommenden Sonntag feiert die Schweiz nicht 50 Jahre Frauenstimmrecht. Sondern 50 Jahre Demokratie.

Die «besten» Argumente gegen das Frauenstimmrecht

Um Argumente waren die Gegner des Frauenstimmrechts nie verlegen. Hier die beliebtesten – und der Realitätscheck.

Die Frau gehört in die Küche und soll die Familie umsorgen.
Frauen sind zu Multitasking fähig, können also mehrere Sachen gleichzeitig erledigen. Trotz Stimmrecht verbrachten sie laut Statistik 2016 immer noch fast doppelt so viel Zeit mit Haushalt und Kindererziehung wie Männer.

Wenn Mütter sich um Politik kümmern, leiden die Kinder.
Siehe oben. Zudem haben Frauen, etwa in den Parlamenten, massgeblich dazu beigetragen, dass der Kindesschutz erhöht wurde.

Das Frauenstimmrecht zerrüttet die Familie – am Esstisch ist dann Politik das Thema und nicht mehr Liebe und Harmonie.
Vermissen Sie die Liebesschwüre am Mittagstisch auch so? Eben.

Frauen, die politisieren, verlieren ihre Weiblichkeit.
Allein die drei Bundesrätinnen und 96 National- und Ständerätinnen beweisen, dass das nicht stimmt.

Die Mehrheit der Frauen will das Frauenstimmrecht nicht.
Das war schon damals nachweislich falsch. Schon 1950 wurden in den Kantonen Basel-Stadt und Genf Umfragen durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig: In Basel wünschten sich 70 Prozent der Frauen das Stimmrecht, in Genf mehr als 80 Prozent.

Politik ist zu unsicher und zu schmutzig für die Frau.
Siehe oben. Wer das heimische Badezimmer putzt, diese Person kann nichts mehr schrecken. Und ohne Geschlechterklischees aufzusitzen: Möglicherweise ist Politik mit Frauen etwas weniger dreckig geworden.

Wenn eine Frau in der Politik mitmischen will, kann sie ihre Meinung indirekt über ihren Mann einbringen.
Und was macht der Mann dann mit seiner Meinung?

Wenn Ehemann und Ehefrau verschiedene Meinungen haben, würden sich ihre Stimmzettel aufheben.
Kann sein. Aber wenn Vater Fritz Ja sagt und Sohn Ernst Nein – dann ist das kein Problem, oder?

Um Argumente waren die Gegner des Frauenstimmrechts nie verlegen. Hier die beliebtesten – und der Realitätscheck.

Die Frau gehört in die Küche und soll die Familie umsorgen.
Frauen sind zu Multitasking fähig, können also mehrere Sachen gleichzeitig erledigen. Trotz Stimmrecht verbrachten sie laut Statistik 2016 immer noch fast doppelt so viel Zeit mit Haushalt und Kindererziehung wie Männer.

Wenn Mütter sich um Politik kümmern, leiden die Kinder.
Siehe oben. Zudem haben Frauen, etwa in den Parlamenten, massgeblich dazu beigetragen, dass der Kindesschutz erhöht wurde.

Das Frauenstimmrecht zerrüttet die Familie – am Esstisch ist dann Politik das Thema und nicht mehr Liebe und Harmonie.
Vermissen Sie die Liebesschwüre am Mittagstisch auch so? Eben.

Frauen, die politisieren, verlieren ihre Weiblichkeit.
Allein die drei Bundesrätinnen und 96 National- und Ständerätinnen beweisen, dass das nicht stimmt.

Die Mehrheit der Frauen will das Frauenstimmrecht nicht.
Das war schon damals nachweislich falsch. Schon 1950 wurden in den Kantonen Basel-Stadt und Genf Umfragen durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig: In Basel wünschten sich 70 Prozent der Frauen das Stimmrecht, in Genf mehr als 80 Prozent.

Politik ist zu unsicher und zu schmutzig für die Frau.
Siehe oben. Wer das heimische Badezimmer putzt, diese Person kann nichts mehr schrecken. Und ohne Geschlechterklischees aufzusitzen: Möglicherweise ist Politik mit Frauen etwas weniger dreckig geworden.

Wenn eine Frau in der Politik mitmischen will, kann sie ihre Meinung indirekt über ihren Mann einbringen.
Und was macht der Mann dann mit seiner Meinung?

Wenn Ehemann und Ehefrau verschiedene Meinungen haben, würden sich ihre Stimmzettel aufheben.
Kann sein. Aber wenn Vater Fritz Ja sagt und Sohn Ernst Nein – dann ist das kein Problem, oder?

50 Jahre Frauenstimmrecht – die Serie

Am 7. Februar 1971 sagte das Stimmvolk in der Schweiz – dazumals ausschliesslich Männer – in einer eidgenössischen Abstimmung Ja zum nationalen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Die Schweiz war damit eines der letzten europäischen Länder, das dieses Bürgerrecht auch der weiblichen Bevölkerung zugestanden hat. In einer Serie geht die Blick-Gruppe diesem für unsere Demokratie historischen Ereignis auf den Grund. Wo stehen wir heute, 50 Jahre später, in Sachen Bürgerrechte, Emanzipation und Gleichstellung?

Am 7. Februar 1971 sagte das Stimmvolk in der Schweiz – dazumals ausschliesslich Männer – in einer eidgenössischen Abstimmung Ja zum nationalen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Die Schweiz war damit eines der letzten europäischen Länder, das dieses Bürgerrecht auch der weiblichen Bevölkerung zugestanden hat. In einer Serie geht die Blick-Gruppe diesem für unsere Demokratie historischen Ereignis auf den Grund. Wo stehen wir heute, 50 Jahre später, in Sachen Bürgerrechte, Emanzipation und Gleichstellung?

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