Das Schlimmste haben wir hinter uns! Das dachten viele noch vor wenigen Wochen. Doch inzwischen sind die Corona-Fallzahlen wieder gestiegen und die Delta-Variante macht Sorgen – auch der Blick-Community. Auf Blick TV beantworteten Sarah Tschudin Sutter von der Taskforce des Bundes, Impfexperte Christoph Berger und Infektiologe Manuel Battegay die drängendsten Fragen. Und erläuterten daraufhin die Hintergründe im Gespräch mit Blick.
Es regnet seit Tagen. Ist das schlechte Wetter schuld am Anstieg der Fallzahlen, weil sich die Menschen wieder vermehrt drinnen aufhalten?
Sarah Tschudin Sutter: Nein, wir können den Anstieg nicht auf das Wetter schieben. Es gibt genügend andere Gründe dafür – wie etwa die Lockerung der Massnahmen oder grössere Menschenansammlungen ohne Schutzmassnahmen.
Sie meinen die Public Viewings während der Fussball-EM?
Tschudin Sutter: Als ich diese Bilder sah, machte mir das schon Sorgen. Nicht wegen der Fussballspiele, sondern vielmehr wegen der Feste, die rundherum stattfanden. Das sind immer Hotspots, an denen das Virus übertragen werden kann.
Haben Sie den Anstieg der Fallzahlen erwartet?
Christoph Berger: Nein, ich hätte es ohne Delta-Variante anders erwartet. Ich glaube, dass die Variante einen grossen Teil der Ansteckungen erklärt, und nicht allein die Lockerung der Massnahmen. Wie so oft ist es multifaktoriell.
Wie gefährlich ist die Delta-Variante?
Manuel Battegay: Wir wissen, dass sich die Delta-Variante schneller verbreitet und die gleiche Schwere der Krankheit auslöst. Das liegt auch daran, dass mit Delta Infizierte schnell eine höhere Viruslast im Rachen haben und damit andere anstecken. Die gute Nachricht ist, dass die Impfung diese Variante abdeckt.
Sarah Tschudin Sutter (45) ist stellvertretende Chefärztin am Unispital Basel. Seit über einem Jahr leitet sie die Expertengruppe «Infektionsprävention- und kontrolle» der wissenschaftlichen Taskforce. Sie ist verheiratet.
Sarah Tschudin Sutter (45) ist stellvertretende Chefärztin am Unispital Basel. Seit über einem Jahr leitet sie die Expertengruppe «Infektionsprävention- und kontrolle» der wissenschaftlichen Taskforce. Sie ist verheiratet.
Was wäre das gewünschte Niveau bei der Impfquote?
Tschudin Sutter: Am liebsten hätten wir natürlich, dass die ganze Bevölkerung geimpft ist, dann gäbe es keine Übertragungen.
Battegay: Natürlich wäre eine 100-prozentige Impfquote bei denen gut, die sich impfen können. Realistischerweise ist es aber sehr gut, in den nächsten ein bis vier Wochen bei der erwachsenen Bevölkerung eine Impfquote von 80 Prozent für die erste Dosis zu erreichen.
Natürlich wären dann noch viele erst mit der ersten Dosis geimpft.
Frankreich führt im Gesundheitswesen die Impfpflicht ein.
Wäre das auch ein Weg für die Schweiz?
Battegay: Ich glaube, für die Schweiz wäre so etwas das falsche Zeichen. Wir sollten den Weg weitergehen, den wir eingeschlagen haben, und auf Dialog setzen – im Gesundheitswesen und mit der Bevölkerung, obwohl das Epidemiengesetz unter bestimmten Bedingungen ein Impfobligatorium grundsätzlich möglich macht. Ich finde es daher wichtig, dass sich die Ärzteschaft jetzt in diesem Dialog weiter engagiert. Auch die Schweiz braucht eine sehr hohe Impfquote.
Und was halten Sie von der Idee, allen Ungeimpften einen Impftermin zu schicken, von dem sie sich dann aktiv abmelden müssten?
Tschudin: Das finde ich keine schlechte Idee.
Battegay: Ich auch! Verschiedene Kantone haben ja schon neue Modelle erfolgreich ausprobiert, etwa Graubünden mit dem sehr aktiven Testkonzept. Es muss ja nicht immer gleich gesamtschweizerisch sein, so etwas könnte man auch auf kleinerem Raum erst anschauen.
Christoph Berger (59) ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EFIK). Aus der Feder der EFIK stammen die vom Bundesamt für Gesundheit herausgegebenen Impfempfehlungen. Berger ist Kinderarzt und Infektiologe und leitet die Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Christoph Berger (59) ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EFIK). Aus der Feder der EFIK stammen die vom Bundesamt für Gesundheit herausgegebenen Impfempfehlungen. Berger ist Kinderarzt und Infektiologe und leitet die Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Die Impfkampagne stockt, besonders die Jungen zögern. Macht Ihnen das Sorgen?
Battegay: Zuerst muss man mal auch das Positive betonen! 64 Prozent der Erwachsenen sind geimpft, ein Grossteil davon zweifach. Bei den Jüngeren ist meine Erfahrung, dass das direkte Gespräch mit Fachleuten viel hilft. Ein Punkt ist dabei wichtig: Die Krankheit ist für Junge zwar allermeist nicht lebensgefährlich. Trotzdem haben 25 Prozent langwierige Beschwerden, zehn Prozent sogar sehr belastende wie etwa Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Das kann nicht zuletzt im Job oder in der Ausbildung sehr problematisch werden.
Viele Gerüchte drehen sich bei der Impfung ums Thema Unfruchtbarkeit. Was ist da dran?
Battegay: Ich fange mal beim Mann an. Es gibt eine kleine, aber sehr gute Studie, in der die Spermienqualität vor und nach der Zweitimpfung untersucht wurde. Dort hat man gesehen, dass sich die Spermienqualität sogar verbessert hat, wenn auch nicht signifikant. Sorgen bereiten sollte hier mehr, dass Folgen einer Covid-19-Erkrankung, insbesondere für das Gefässsystem, Erektionsstörungen hervorrufen können. Was Frauen betrifft, kursieren vor allem in den sozialen Medien Falschinformationen. Sie beruhen darauf, dass das Spike-Protein des Coronavirus, auf das die Impfung abzielt, einem Protein ähnelt, das eine Rolle bei der Plazenta-Bildung spielt. Das hat zur Theorie geführt, dass die Antikörper dieses Plazenta-Protein angreifen und es daran hindern, seine Funktion zu erfüllen. Das stimmt allerdings nicht – die Proteine sind so unterschiedlich, dass das gar nicht möglich ist.
Wie sieht es wegen möglicher Langzeitfolgen der Impfung aus?
Battegay: Wir haben hier die am besten getesteten Impfstoffe der Menschheitsgeschichte. Langzeitfolgen der Impfung sind eigentlich fast nicht möglich. Wenn schädliche Reaktionen auftreten, passiert das ja jeweils sehr schnell nach der Impfung oder in den ersten ein bis zwei Monaten. Das zeigt auch die Erfahrung aus früheren und jetzt gebrauchten Impfungen.
Manuel Battegay (61) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Bis zu seinem Rücktritt Anfang März 2021 war er Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.
Manuel Battegay (61) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Bis zu seinem Rücktritt Anfang März 2021 war er Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.
Es gibt auch Stimmen, die sagen: Ich hatte Corona, es war nicht so schlimm – warum sollte man sich impfen lassen?
Berger: Es ist ganz wichtig, dass man sich nach einer Erkrankung einmal impfen lässt. Denn nach einer durchgemachten Infektion ist man lediglich vorübergehend geschützt gegen das Virus, das man hatte – aber nicht gegen eine neue Variante.
Tschudin Sutter: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir extrem privilegiert sind. Wir haben den Impfstoff, während viele ärmere Länder immer noch darauf warten. Das ist vielleicht auch etwas, was sich die Impfgegner in diesem Land einmal vor Augen führen sollten.
Kinder können sich nach wie vor nicht impfen lassen. Müssen wir akzeptieren, dass das Virus nach den Sommerferien in den Schulzimmern zirkulieren wird?
Berger: Ja, das müssen wir. Wir können die Kinder momentan nicht impfen, wir haben also keine andere Wahl. Aber: Je weniger das Virus zirkuliert, desto weniger passiert auch den Kindern.
Es könnte Einschränkungen geben, die nur für Ungeimpfte gelten. Was heisst das für die Kinder?
Berger: Wir dürfen diese Ungleichbehandlung nicht auf die Kinder übertragen, da sie sich nicht impfen lassen können. Sie haben viel durchgemacht und brauchen Freiheiten. Ich sehe nicht ein, wie man Masken im Schulzimmer tragen soll, wenn der Rest der Bevölkerung bei vielen ungeimpften Erwachsenen keine trägt. Die Kantone und Schulbehörden müssen hier für den Schulbeginn Schutzkonzepte bereithalten.
Die Sommerferien stehen bevor. Viele wollen endlich wieder einmal ans Meer. Was raten Sie den Touristen?
Battegay: Ich empfehle allen, sich noch vor den Ferien impfen zu lassen! Die zweite Impfung kann man gut erst nach den Ferien durchführen. Wenn zwischen der ersten und der zweiten Impfung etwas mehr als vier Wochen verstreichen, ist das nicht problematisch. Wenig sinnvoll ist es hingegen, wenn man mit der Impfung bis nach den Ferien wartet.
Warum?
Battegay: Wenn man ein Mal geimpft ist, hat man bereits einen gewissen Schutz. Das Risiko, mit einer Infektion aus den Ferien zurückzukehren, ist deutlich kleiner. Aber selbstverständlich zählt auch das eigene Verhalten: Wer allein in Island wandern geht, setzt sich einem kleineren Ansteckungsrisiko aus, als wer am Trafalgar Square in London ein Fussballspiel verfolgt.