Contact Tracing bei Grossanlässen
St. Gallen will Veranstalter in Pflicht nehmen

Die kommenden Grossanlässe machen den Kantonen Sorgen. In St. Gallen überlegt man sich, Veranstalter zu verpflichten, das Contact Tracing selber zu übernehmen.
Publiziert: 16.08.2020 um 15:09 Uhr
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Aktualisiert: 16.08.2020 um 15:59 Uhr
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Überforderte IT-Systeme, unleserliche Dokumente, störrische Infizierte: Insider sagen, das Contact Tracing in den Kantonen funktioniere mehr schlecht als recht.
Foto: Keystone
Interview: Camilla Alabor

Herr Burkart, Insider kritisieren gegenüber SonntagsBlick das Contact Tracing: Dieses funktioniere derzeit überhaupt nicht. Sie sind Chef des Contact-Tracing-Teams des Kantons St. Gallen – sind Sie mit dieser Analyse einverstanden?

Benni Burkart: Nein, im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, wir können durch die Kontaktaufnahme mit Infizierten – sogenannten Indexpersonen – und deren Umfeld viel bewirken.

Schauen wir uns die Kritikpunkte dennoch an. Manche positiv getesteten Personen geben an, sie seien in den vorangehenden Tagen zu Hause geblieben und hätten mit niemandem Kontakt gehabt. Wie oft stellen Sie fest, dass Infizierte nicht kooperieren?

Wir machen hier in St. Gallen eine ganz andere Erfahrung, was vielleicht daran liegt, dass wir eine ländliche Region sind. In der Regel erhalten wir die Kontaktdaten rasch und unkompliziert.

Halten sich die Menschen, die Sie kontaktieren, an die verordnete Quarantäne?

Meines Wissens schon. Allerdings handhaben wir die Quarantäne nicht ganz so strikt, wenn die Personen nicht infiziert sind. Ein Spaziergang alleine im Wald ist beispielsweise durchaus möglich. Oder dass man frühmorgens kurz einkaufen geht, wenn nicht viele Leute im Laden sind – selbstverständlich immer mit Maske. Dieses lockere Regime hilft den Betroffenen, die Quarantäne durchzustehen.

Ein weiterer Kritikpunkt: Die Kantone erhalten von den Labors und Kantonsärzten gescannte Dokumente, die abgetippt werden müssen. Zudem sind die Zettel der Airline-Passagiere handschriftlich ausgefüllt und mitunter unleserlich.

Das ist leider so und gerade bei hohen Fallzahlen ein Problem. Unser Team verliert enorm viel Zeit damit, die Daten ins System einzugeben – pro Fall sind das sicher zehn Minuten. Wobei es noch viel länger dauern kann, wenn unser System ausgelastet ist; da kämpfen wir derzeit mit Geschwindigkeitsproblemen. Bis das Problem gelöst ist, schreiben wir im Notfall die Kontaktangaben auf einen Zettel und unsere Zivilschützer tippen sie später ab.

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Kritiker glauben, das Contact Tracing könnte in den nächsten Wochen aufgrund des Schulstarts und der Ferienrückkehrer an den Anschlag kommen. Wie sehen Sie das?

Das macht mir derzeit weniger Sorgen als die Grossveranstaltungen, die ab Oktober wieder erlaubt sein sollen. Wenn viele Leute nahe beieinander sind, Party machen und Alkohol trinken, kommt es sicher zu 20 bis 30 engen Kontakten pro Person. Sobald wir aber in unserem Kanton über mehrere Tage hinweg 30 neu Infizierte haben, wird es kritisch.

Sie sprechen aus Erfahrung?

Ja, wir hatten kürzlich zehn Indexpersonen, die in einem Fussballverein aktiv sind und insgesamt mit über 150 Personen Kontakt hatten. Diese Personen sofort ausfindig zu machen, hat enorm viele Ressourcen gebraucht. Aktuell beschäftigt uns der Fall einer Firma, wo wir ebenfalls innerhalb kürzester Zeit sehr viele Personen kontaktieren müssen.

Welche Lösungen sehen Sie, um bei Grossanlässen nicht die Übersicht zu verlieren?

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine davon ist, dass die Indexperson ihre Kontakte selber per Telefon informiert und der Kanton zusätzlich ein Mail verschickt. In gewissen Kantonen wird das jetzt schon so gehandhabt.

Funktioniert das?

Ja, ich denke schon. Wenn man von einem Bekannten kontaktiert wird, ist die Gefahr ja nochmals greifbarer.

Welche anderen Optionen gibt es?

Wir diskutieren derzeit, ob es möglich ist, die Veranstalter in die Pflicht zu nehmen. So, dass sie im Falle von Infektionen selber einen Teil des Contact Tracing übernehmen müssen und die Infizierten sowie deren Kontakte informieren. Das ist bisher aber erst eine Idee, die wir aus rechtlicher und datenschützerischer Sicht noch abklären müssen.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen, die nicht automatisiert ist. Wenn jemand im Kanton A wohnt und im Kanton B arbeitet, müssen sich die Kantone absprechen, wer für welche Kontaktaufnahme zuständig ist.

Das ist so. Wir müssen in jedem Einzelfall klären, wer dafür zuständig ist, die Familie zu kontaktieren, wer sich um die Arbeitskollegen kümmert und wer um die Kollegen aus dem Sportverein. Mir wäre lieber gewesen, der Bund hätte festgelegt, was in solchen Fällen gilt. Aber dadurch, dass der Bund den Kantonen die Verantwortung abgegeben hat, haben wir derzeit 26 verschiedene Lösungen. Das ist etwas mühsam, denn die Infektionsketten halten sich natürlich nicht an Kantonsgrenzen.

Inwiefern stehen beim Datenaustausch auch die Kantone in der Pflicht, die es bisher nicht geschafft haben, sich auf ein einziges IT-System zu einigen?

Ich glaube, man wusste im Juni schlicht nicht, wie komplex und aufwendig das Tracing werden würde. Am Anfang hat jeder Kanton einfach mal mit dem begonnen, was er hatte, doch seither verlangt der Bund ständig mehr Daten. Im Rückblick muss man wohl sagen: Es wäre besser gewesen, von Anfang an gross zu denken und in ein einheitliches System zu investieren.

Trotz all dieser Probleme sind Sie der Meinung, das Contact Tracing funktioniere gut?

Ja, über alles gesehen schon. Ich würde sagen, in 80 Prozent der Fälle klappt es sehr gut, in 20 Prozent der Fälle ist es schwierig. Aber man muss auch sehen: 100 Prozent zu erreichen, würde sehr viel mehr kosten – und ist ohnehin kaum machbar. Ausserdem müssen sich die Leute bewusst sein: Das Contact Tracing kann nicht alle Probleme lösen. Die Eindämmung des Coronavirus steht und fällt mit dem Verhalten der Menschen.

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