Journalistinnen sollten nicht allzu vorlaut sein. Ihr Alltag auf der Redaktion beginnt oft erst um 9 Uhr. Ganz anders sieht es bei Arbeitern auf dem Bau oder Kassiererinnen an der Migros-Kasse aus: Sie sind dann wohl bereits in der Znünipause. Ihr Wecker klingelt um 5 Uhr, um 6 Uhr oder spätestens um 7 Uhr.
Auch die meisten SP-Politiker hätten vom Leben der Arbeiter keine Ahnung, lautet ein Vorwurf, den sich die Genossen immer wieder anhören müssen. Ein Büezer wähle heute SVP – und schon lange nicht mehr die traditionelle Arbeiterpartei.
Nun scheint ausgerechnet SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (35) das Klischee zu bestätigen: In einem Interview mit Blick Romandie sagte er, gerade in der Pandemie habe man gesehen, wer in diesem Land wirklich Wohlstand schaffe: «Es sind nicht die Manager in Gucci oder Prada, sondern die Menschen, die jeden Tag um acht Uhr morgens aufstehen, um den Haushalt zu machen, die Kinder zu erziehen, all das zu tun, was man unter dem Begriff ‹Care› fasst».
Wermuth weckt Kinder um 7 Uhr
Um 8 Uhr aufstehen? Die Kritik auf den sozialen Medien folgte prompt. Die Aussage zeige, dass der SP-Chef keine Ahnung habe von Arbeit. Die meisten Arbeiterinnen seien um 8 Uhr bereits am Arbeiten – oder kämen von der Nachtschicht nach Hause.
Wermuth schreibt auf Nachfrage von Blick, er müsse selber über den Formulierungsfehler lachen. «Ich wollte einfach festhalten, dass Kinderbetreuung für viele in den Gucci-Etagen noch immer als nicht richtige, unmännliche Arbeit gilt.» Er selber wecke seine beiden Kinder normalerweise um 7 Uhr, um 8 Uhr würden sie gemeinsam los in die Kita und in die Schule. Die Behauptung, die Arbeiter würden die SP verlassen, hält er für «reine Fake News».
Verliert die SP die Arbeiter?
Das Verhältnis zwischen der Sozialdemokratie und der Arbeiterschaft wurde mehrfach untersucht. Studien für die Schweiz zeigen, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in den 1980er-Jahren von der SP abwandten. Mitte der 1990er-Jahre war es die SVP, die mit ihren ausländerfeindlichen- und EU-kritischen Parolen zur stärksten Partei im Arbeiter-Millieu aufstieg.
Für die jüngste Vergangenheit stützen allerdings Studien der Schweizer Politik-Professorin Silja Häusermann (44) Wermuths Position. Es sei ein «Mythos», dass die Linke die Arbeiterinnen und Arbeiter an die radikale Rechte verliere, schreiben sie und weitere Forscher. Seit der Jahrtausendwende hätten sozialdemokratische Parteien in Westeuropa viel mehr Wählerinnen und Wähler an Grüne-, linksliberale oder Mitte-Rechts-Parteien verloren als an rechtspopulistische wie die SVP.
Zudem würden in erster Linie Wählerinnen aus der Mittelschicht den Sozialdemokraten den Rücken kehren. Eine starke Abwanderung aus den unteren sozialen Schichten, denen die klassischen Arbeiter angehören, lasse sich hingegen nicht beobachten. (til)