Calmy-Rey rüffelt Bundesrat
Die Schweiz hat ein «Führungsproblem»

Bei den Verhandlungen mit der EU um ein Rahmenabkommen koche jeder Bundesrat sein eigenes Süppchen. Für die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (74) ist der Schlamassel absehbar.
Publiziert: 23.04.2020 um 08:24 Uhr
1/10
Souveränität oder freier Zugang zum EU-Markt: Die Schweiz strebt mit dem umstrittenen Rahmenabkommen die Quadratur des Kreises an.
Foto: Keystone
Daniel Ballmer

Micheline Calmy-Rey (74) nimmt auch heute noch kein Blatt vor den Mund: Wenn das so weitergeht, dann wird das nichts mit dem Rahmenabkommen mit der EU. Die ehemalige SP-Aussenministerin bezweifelt, dass der Bundesrat das Abkommen unter Dach und Fach bringt. Das Problem in ihren Augen: Jedes Regierungsmitglied kocht sein eigenes Süppchen.

Ihre Kritik äussert Calmy-Rey im Vorwort zum neuen Buch «Kleine Geschichte des Rahmenabkommens» von Felix E. Müller (68). Das Werk des ehemaligen Chefredaktors der «NZZ am Sonntag» sei sehr aufschlussreich, findet sie. Es «enthüllt unsere Unzulänglichkeiten: Departemente, die Sektor für Sektor im Alleingang regieren, anstatt mit vereinten Kräften zu kämpfen». Lieber baue jeder Bundesrat seine eigene Aussenpolitik auf.

Zuerst auf eine gemeinsame Position einigen

«Heute erleben die Europäer, wie sich unsere verschiedenen Vertreter in Brüssel die Klinke in die Hand geben», schreibt Calmy-Rey. Der eine möchte seine finanziellen oder wirtschaftlichen Interessen verteidigen. Der andere wolle sich mit Migrationsfragen auseinandersetzen und der nächste politische Fragen erörtern.

Dass das Bundespräsidium jedes Jahr wechselt, macht die Sache nicht einfacher. Gleichzeitig hat der Aussenminister zuhause wenig Rückhalt. Resultat: Das geduldig ausgehandelte Abkommen bleibt umstritten. Für Calmy-Rey ist das keine Überraschung: «Zumindest eine interne Verständigung und die Bemühungen um einen Konsens vor Aufnahme der Verhandlung täten not.»

«Nichts als Fassade»

Einfacher gesagt als getan: Es «muss festgestellt werden, dass der Gesamtbundesrat gespalten ist und sich mit Entscheidungen schwertut». Die Schweiz müsse sich entscheiden, was wichtiger ist: Souveränität oder Marktzugang. Calmy-Rey ist dabei wenig zuversichtlich: «Es stellt sich die Frage, ob dieses Vorhaben angesichts der unterschiedlichen Ansätze nicht zum Scheitern verurteilt ist.»

Für Calmy-Rey stösst die Schweiz hier an ihre Grenzen. «Die Konkordanzdemokratie, auf die wir so stolz sind, ist im Bereich Aussenpolitik, genauer gesagt Europapolitik, nichts als Fassade», kritisiert sie. Eine Kakophonie vieler verschiedener Meinungen sei wenig zielführend. «Und das Fehlen einer politischen Leitlinie ist in dieser Hinsicht mehr als besorgniserregend.»

Die Rolle des Aussenministers soll gestärkt werden

Calmy-Rey erkennt ein «Führungsproblem». Der Lösungsansatz der ehemaligen Aussenministerin mag allerdings wenig überraschen: Die Rolle des Aussenministers soll gestärkt werden. Das garantiere eine koordinierte und damit effiziente Europapolitik. Gerade auch wegen der Machtverteilung im Bundesrat habe sie bereits 2005 die Idee eines Rahmenabkommens vertreten.

Heute habe der Aussenminister weiterhin einen schweren Stand. Eine integrierte Aussenpolitik unter seiner Federführung «stiess und stösst noch immer auf grosse Hindernisse». Die Konsequenzen sind für Calmy-Rey klar: Findet sich beim Rahmenabkommen «keine tragbare Lösung, kommt ein gewaltiges Dilemma auf uns zu».

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?