Das WEF 2022 wäre aus Schweizer Sicht noch interessanter gewesen als sonst: Denn am Rande des Treffens hätte Ignazio Cassis (60) – dann als Bundespräsident – Maros Sefcovic (55) getroffen, den Vizepräsidenten der EU-Kommission. Am 15. Januar hätten in Davos GR Nägel mit Köpfen gemacht werden sollen, wie es nach dem Scheitern des Rahmenabkommens in den bilateralen Beziehungen weitergehen soll.
So stellte sich das jedenfalls die EU vor. Nach einem ersten Treffen hatte Sefcovic gefordert, Cassis müsse in Davos eine «Roadmap» mit Schweizer Vorschlägen vorlegen. Und den Bundesrat damit überrumpelt. Denn Cassis hatte vor und nach dem Treffen in Brüssel gesagt, es habe sich erst um ein erstes Kennenlernen gehandelt.
Ein neuer Termin muss her!
Durch die Absage des WEF bekommt die Schweiz nun eine Gnadenfrist, um ihre Vorschläge auf den Tisch zu legen. Wie das Aussendepartement (EDA) auf Anfrage mitteilt, wird ein neuer Termin gesucht: «Wo und wann ein solches Treffen stattfindet, wird zum gegebenen Zeitpunkt kommuniziert.» Einfach dürfte das nicht werden, denn sowohl die Agenda des Bundespräsidenten 2022 als auch jene von Sefcovic ist ziemlich voll.
Immerhin wird der Bundesrat dann parat sein. In der Sitzung vom 12. Januar wird die Landesregierung voraussichtlich beschliessen, was sie der EU anbieten will. In Grundzügen ist die Strategie klar: Einen übergeordneten Vertrag wie das Rahmenabkommen soll es aus Schweizer Sicht nicht mehr geben. Ein solcher hätte innenpolitisch schlicht keine Chance.
Neues Vorgehen
Stattdessen sollen die institutionellen Fragen – wie übernimmt die Schweiz EU-Recht, wer soll Streitereien schlichten, welchen Strafen drohen? – in jedem der fünf betroffenen Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft) separat geklärt werden. Verschiedene Quellen bestätigen einen entsprechenden Bericht der «NZZ am Sonntag».
Für die Schweiz wäre das interessant: Erstens müsste die Regelung nicht immer die gleiche sein, und zweitens könnte so die Guillotine-Klausel wegfallen, die besagt, dass bei der Kündigung eines Vertrags auch alle anderen bilateralen Abkommen null und nichtig wären.
Knackpunkt Personenfreizügigkeit
Diese Strategie hat zwei Probleme. Erstens: Ob sich die EU auf den Vorschlag einlassen wird, steht in den Sternen. Zweitens: Wenn ja, dürfte sie fordern, zuerst das Personenfreizügigkeitsabkommen zu verhandeln. Und da warten aus Schweizer Sicht die grossen Knackpunkte Lohnschutz und Zugang zur Sozialhilfe für EU-Bürger durch die Unionsbürgerrichtlinie. Dem Vernehmen nach will der Bundesrat insbesondere das zweite verhindern und die Ausklammerung der Richtlinie aushandeln.