Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, kaum ein Auftritt von Alain Berset (49) geht über die Bühne, ohne dass eine Gegendemonstration stattfindet. Und auch die Pflegenden sind zurzeit nicht sehr gut auf den Gesundheitsminister zu sprechen, lehnt dieser doch die Pflege-Initiative zugunsten des indirekten Gegenvorschlags ab. Im Gespräch mit Blick zeigt der SP-Bundesrat zwar Verständnis für den Corona-Frust, macht aber auch klar, dass schnelle Lockerungen gefährlich wären.
Blick: Herr Berset, letzthin wunderte sich die Schweiz: Als Sie im Medienzentrum Ihr Covid-Zertifikat zeigen mussten, zückten Sie ein Papier, nicht Ihr Handy. Steht das sprichwörtlich für die Probleme mit der Digitalisierung beim BAG, dem Bundesamt für Gesundheit?
Alain Berset: (lacht) Das ist eine bösartige Frage! Nein, das waren ausgerechnet die zwei Stunden, als mein Handy ein Update bekam. Aber ich habe die gedruckte Version des Zertifikats sowieso immer dabei. Ausserdem haben wir bei der Digitalisierung grosse Fortschritte gemacht.
Wie häufig brauchen Sie Ihr Zertifikat?
Die ersten Male schon im Juli für Grossanlässe wie das Montreux Jazz Festival. Und inzwischen wohl täglich.
Sie kommen damit gut zurecht. Das trifft nicht auf alle zu. Seit Wochen wird auf Schweizer Strassen gegen das Zertifikat demonstriert. Wie gehen Sie damit um?
Das ist natürlich nicht einfach. Die Pandemie prägt unser Leben nun schon seit 20 Monaten. Aber schauen Sie, wie anders es heute ist als noch vor einem Jahr: Damals musste der Bundesrat Restaurants, Kinos, Läden schliessen. Jetzt haben wir eine Lösung, um das Risiko einer Ansteckung ohne Schliessungen deutlich zu vermindern. Aber ich verstehe die Forderung nach dem Ende aller Massnahmen. Das hätte ich ja auch gerne. Aber unsere Verantwortung als Regierung ist es, eine mögliche Überlastung der Spitäler zu verhindern – und das ist nicht nur Theorie.
Es ist am 28. November bereits das zweite Mal, dass die Stimmbevölkerung über das Covid-Gesetz entscheidet. Die Änderungen gegenüber März 2021, um die es diesmal geht, betreffen vorab das Covid-Zertifikat. Gerade dieses ist den Gegnern ein Dorn im Auge.
Es geht aber noch um einiges mehr. So wurden auch die Hilfsmassnahmen für von der Krise besonders Betroffene ausgeweitet. Die Härtefallgelder wurden aufgestockt, der Kreis der Selbständigen, die Erwerbsersatz erhalten, wurde erweitert. Zudem hat das Parlament eine Gesetzesgrundlage geschaffen, um Veranstaltern oder freischaffenden Künstlern unter die Arme zu greifen.
Es ist am 28. November bereits das zweite Mal, dass die Stimmbevölkerung über das Covid-Gesetz entscheidet. Die Änderungen gegenüber März 2021, um die es diesmal geht, betreffen vorab das Covid-Zertifikat. Gerade dieses ist den Gegnern ein Dorn im Auge.
Es geht aber noch um einiges mehr. So wurden auch die Hilfsmassnahmen für von der Krise besonders Betroffene ausgeweitet. Die Härtefallgelder wurden aufgestockt, der Kreis der Selbständigen, die Erwerbsersatz erhalten, wurde erweitert. Zudem hat das Parlament eine Gesetzesgrundlage geschaffen, um Veranstaltern oder freischaffenden Künstlern unter die Arme zu greifen.
Im Frühling haben Sie angekündigt, dass die meisten Massnahmen aufgehoben werden, wenn alle Impfwilligen geimpft sind. Dieser Punkt ist längst erreicht. Verstehen Sie, dass die Gegner des Covid-Gesetzes sich belogen fühlen?
Wir haben das gesagt, ja. So war auch unser damaliger Wissensstand. Seitdem ist etwas passiert: Wir haben es seit dem Sommer mit einer Virusvariante zu tun, die mehr als doppelt so ansteckend ist wie jene damals. Eine Impfquote von 60 bis 70 Prozent hätte beim ursprünglichen Virus ausgereicht, um mit vertretbarem Risiko Massnahmen weitestgehend aufheben zu können. Für die Delta-Variante reicht sie nicht.
Für Genesene soll es Antikörper-Tests geben. Lange haben Sie diese als unzuverlässig abgetan. Jetzt sollen sie plötzlich zeigen können, wer eine Corona-Erkrankung durchgemacht hat und darum eine gewisse Immunabwehr vorweisen kann. Wieso dieser Wechsel?
Unser Ziel ist es, aus der Pandemie auszusteigen, und das jeweils mit möglichst vielen Möglichkeiten für die Bevölkerung. Heute sind die Antikörpertests deutlich besser. Aber wir gehen auch ein gewisses Risiko ein, weil der Schutz in der Tat nicht genau bestimmt werden kann und auch nicht gleich gut ist wie eine Impfung. Daher soll die Gültigkeitsdauer auf 90 Tage beschränkt werden.
Ist denn schon klar, wie die Leute zu solch einem Test kommen? Können Sie Antikörper-Schnelltests in der Apotheke machen oder braucht es hochwertigere Tests, die im Labor analysiert werden müssen?
Die Abnahme des Blutes erfolgt in der Regel durch eine Ärztin oder einen Arzt. Zudem werden nur Antikörpertests akzeptiert, die in zugelassenen Labors analysiert werden. Damit können wir die Qualität sicherstellen.
Dann reichen Schnelltests für ein solches Zertifikat also nicht?
Nein, es braucht eine Laboranalyse.
Kommen wir zu einem anderen Thema: In der Corona-Krise waren Sie viel in Spitälern und haben die Überforderung des Personals hautnah erlebt. Wie stimmen Sie am 28. November bei der Pflege-Initiative?
So einfach locken Sie keinen Bundesrat aus der Kollegialität! Ich werde die Pflege-Initiative ablehnen, damit der indirekte Gegenvorschlag in Kraft tritt.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ursprünglich wollte der Bundesrat ja nichts wissen von einem Gegenvorschlag. Wie passt das zusammen?
Die Initiantinnen und Initianten haben ein wichtiges Anliegen. Eine gute Pflege ist zentral für uns alle. Ich bin sehr froh, dass das Parlament ihnen weit entgegengekommen ist. Noch nie – soweit ich mich erinnern kann – sind derart viele Forderungen einer Initiative in einem Gegenvorschlag aufgenommen worden. So sollen Pflegende gewisse Leistungen selber abrechnen und künftig mehr selbst entscheiden dürfen, ohne ständig den Segen eines Arztes einholen zu müssen. Und vor allem gibt es fast eine Milliarde Franken für die Ausbildung.
Genügend diplomiertes Personal und bessere Arbeitsbedingungen: Das verlangt die Pflege-Initiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. So brauche es etwa Massnahmen, um zu verhindern, dass Pflegende frühzeitig aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise eine maximale Anzahl Patienten pro Pflegekraft.
Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab, legen ihr aber einen indirekten Gegenvorschlag vor. Dieser sieht eine Ausbildungsoffensive vor, bei der Bund und Kantone insgesamt knapp unter einer Milliarde Franken über acht Jahre investieren sollen. Zudem sollen Pflegende neu gewisse Leistungen selbst abrechnen können. Für Massnahmen im Arbeitsalltag seien aber Sozialpartner und Kantone zuständig.
Genügend diplomiertes Personal und bessere Arbeitsbedingungen: Das verlangt die Pflege-Initiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. So brauche es etwa Massnahmen, um zu verhindern, dass Pflegende frühzeitig aus dem Beruf aussteigen, beispielsweise eine maximale Anzahl Patienten pro Pflegekraft.
Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab, legen ihr aber einen indirekten Gegenvorschlag vor. Dieser sieht eine Ausbildungsoffensive vor, bei der Bund und Kantone insgesamt knapp unter einer Milliarde Franken über acht Jahre investieren sollen. Zudem sollen Pflegende neu gewisse Leistungen selbst abrechnen können. Für Massnahmen im Arbeitsalltag seien aber Sozialpartner und Kantone zuständig.
Die Ausbildungsoffensive löst nicht alle Probleme. Wie wollen Sie verhindern, dass der Nachwuchs wieder abspringt?
Es gibt in jedem Beruf Leute, die aussteigen oder sich weiterbilden, das werden wir nicht ändern können. Doch auch dafür bietet der Gegenvorschlag Lösungen. Beispielsweise wird das selbständige Arbeiten vereinfacht – das ist eine Kernforderung der Initiative.
Was sich nicht ändert, sind die vielen Überstunden, weil es zu wenig Personal gibt, und der Druck, für zu viele Patienten gleichzeitig verantwortlich zu sein.
Bei Annahme der Initiative wird so schnell keine zusätzliche Fachkraft ausgebildet. Mit dem Gegenvorschlag aber liegt dafür eine Milliarde für acht Jahre auf dem Tisch – sie kann rasch eingesetzt werden. Das ist eine riesige Summe! Vielleicht haben wir uns in der Pandemie zu sehr daran gewöhnt, von Milliarden zu reden. Aber das ist wirklich viel Geld – für einen einzigen Beruf!
Es ist umstritten, ob der Gegenvorschlag so schnell umgesetzt wäre, wie Sie jetzt sagen. Die Kantone müssen ihren Teil des Geldes noch sprechen, zum Teil werden dafür kantonale Gesetze nötig sein. Auch das dauert.
Die Kantone stehen hinter dem Gegenvorschlag. Sie haben ein grosses Interesse, den Mangel an Pflegefachpersonen möglichst rasch zu beheben. Natürlich kann das einige Monate dauern. Bei Annahme der Initiative könnte es aber Jahre dauern, bis ein Gesetz für die Umsetzung da ist. Und vergessen Sie nicht: Der Gegenvorschlag wurde vom Parlament im Frühling 2020 verabschiedet, unter dem Eindruck der ersten Corona-Welle. Wie das Parlament eine Umsetzung angeht, wenn die Pandemie vorbei ist, weiss niemand. Zumal es nach den Wahlen 2023 ein neues Parlament sein wird.
Als Gesundheitsminister ist Alain Berset (49) wie kein anderer zum Gesicht der Corona-Krise geworden – auch zu dem der Massnahmen-Kritiker. Der vorherige SP-Ständerat wurde 2012 in die Landesregierung gewählt und ist seither Innenminister. Er lebt in Belfaux FR, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Als Gesundheitsminister ist Alain Berset (49) wie kein anderer zum Gesicht der Corona-Krise geworden – auch zu dem der Massnahmen-Kritiker. Der vorherige SP-Ständerat wurde 2012 in die Landesregierung gewählt und ist seither Innenminister. Er lebt in Belfaux FR, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Und wie schnell kann der Gegenvorschlag in Kraft treten?
Der Bund ist bereit. Und ich bin überzeugt, dass auch die Kantone ein riesiges Interesse daran haben, vorwärtszumachen. Kantone, die schneller sind, werden einfach früher profitieren.
Sie haben doch einfach Bedenken, dass eine Umsetzung der Initiative noch teurer wird als eine Milliarde.
Nicht unbedingt. Eine Knacknuss aber wäre die geforderte Regelung der Arbeitsbedingungen auf Bundesebene. Man würde so Arbeitsbedingungen einer Berufskategorie von Bundesseite her vorgeben. Andere Berufe wären daran sicher auch interessiert. Das würde sicher viele Diskussionen geben.
Die Arbeitsbedingungen seien nicht Aufgabe des Bundes, sagen Sie. Offenbar kriegen das Kantone und Sozialpartner aber nicht hin – der Pflegenotstand ist ja nicht neu.
Klar, wenn es in den normalen Zuständigkeiten nicht klappt, mit den Sozialpartnern und den Spitälern Lösungen zu finden, ist die Versuchung gross, den Bund in die Pflicht zu nehmen. Wenn die Konsequenz aber die Zentralisierung ist, muss man sich fragen, was das für das gesamte System bedeutet. Unser Gesundheitswesen funktioniert gut, so wie es ist, die Kantone leisten hier eine grosse Arbeit – das haben wir in der Pandemie gesehen.