«Unser Land ist immer noch neutral»
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Cassis zur Neutralität:«Unser Land ist immer noch neutral»

Bundespräsident Cassis telefonierte mit Selenski
«Ich fragte ihn: Wie geht es dir? Bist du verletzt?»

Ignazio Cassis räumt ein, der Bundesrat habe bei den Sanktionen schlecht kommuniziert. Und er erklärt, warum Europa keinen Krieg erwartete.
Publiziert: 06.03.2022 um 09:49 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 09:51 Uhr
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Was der Bundesrat bezüglich Sanktionen entschied, blieb vergangene Woche unklar.
Foto: keystone-sda.ch
Interview: Camilla Alabor und Simon Marti

SonntagsBlick: Herr Bundespräsident, als Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, beschloss der Bundesrat zuerst, die Sanktionen der EU nicht zu übernehmen. Wie konnte die Regierung einen derartigen Fehlentscheid fällen?
Ignazio Cassis: Es ist gerade umgekehrt. Der Bundesrat hat selten etwas so Wichtiges so schnell entschieden. Am Morgen des Kriegsausbruchs berief ich um acht Uhr eine ausserordentliche Sitzung ein, die bereits um elf Uhr stattfand. Dabei beschloss der Bundesrat, diese Völkerrechtsverletzung aufs Schärfste zu verurteilen. Es war ihm wichtig, dass man die Schweiz nicht als Profiteurin des Krieges wahrnimmt.

Aber die Sanktionen der EU wollte die Schweiz nicht übernehmen.
Wir entschieden am Donnerstag, die bestehenden Massnahmen zu verschärfen; es blieb offen, wie dies geschehen würde. Der Bundesrat musste einen Weg finden, so weit zu gehen wie möglich, ohne dabei die Neutralität zu verletzen, und mit dem Ziel, der Diplomatie einen möglichst grossen Handlungsspielraum zu lassen.

Sie sagten, man wollte verhindern, dass die Schweiz als Kriegsprofiteurin dasteht. Genau dieser Eindruck entstand aber nach dem Entscheid vom Donnerstag.
Es ist dem Bundesrat am Donnerstag nicht gelungen, seine Entscheide zu den Sanktionen so zu vermitteln, dass sie verstanden wurden. Da haben Sie recht. Im Nachhinein ist man immer klüger.

Sie sagen jetzt, es sei bereits am Donnerstag klar gewesen, dass die Sanktionsmassnahmen überprüft würden. Nach unseren Informationen war nicht geplant, dass der Bundesrat eine komplette Kehrtwende vollführen und die Sanktionen der EU vollständig übernehmen würde.
Noch einmal. Sieben Stunden nach Kriegsbeginn haben wir getagt. Einen Tag später nahm der Bundesrat am Rande einer Pressekonferenz zu Europa erneut Stellung zur Ukraine. Die Aufträge waren da bereits erteilt, die gründliche Abklärung erfolgte übers Wochenende.

War es nicht vielmehr der Druck der Demonstrierenden, der Parteien und der westlichen Länder, die den Bundesrat dazu bewogen, die Sanktionen schliesslich doch zu übernehmen?
Der Bundesrat wäre kritisiert worden, hätte er einen derart schwierigen Entscheid leichtfertig gefällt.

Es bleibt der Eindruck, dass sich der Bundesrat der Tragweite der Ereignisse nicht bewusst war.
Entschuldigung, Sie haben mein Präsidialstatement nicht gelesen.

Doch.
Darin sagte ich: Die Schweiz verurteilt das russische Vorgehen aufs Schärfste. Die Schweiz verurteilt nicht «auf Schärfste» eine Grossmacht, ohne zu wissen, was das bedeuten könnte. Die Umsetzung der Sanktionen benötigte aber fundierte Abklärungen.

Man glaubte also bis zuletzt nicht, dass Putin diesen Krieg tatsächlich vom Zaun brechen würde. Sonst wären diese Abklärungen irgendwo in einer Schublade griffbereit gewesen.
Die meisten europäischen Länder hielten eine militärische Invasion des ganzen Landes für die unwahrscheinlichste aller Optionen. Die Amerikaner waren die Einzigen, die vor einem Krieg gewarnt haben. Dafür wurden sie auch kritisiert. Die Warnung wurde zum Teil als Propaganda abgetan.

Vor zwei Jahren glaubte kaum jemand an die Gefahren einer Pandemie, nun erwischt uns ein Diktator auf dem falschen Fuss, der seit über 20 Jahren im Kreml hockt. Das spricht nicht gerade für uns.
Schauen Sie, ganz Europa wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Wahrscheinlich weil wir 77 Jahre lang glaubten, zwischenstaatliche Kriege, das sei vorbei. Dann wurde die EU geschaffen, die Uno. Ein Krieg in Europa als mögliche Realität wurde verdrängt.

Sie haben mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski gesprochen. Was sagt man einem Staatschef, der in seiner Hauptstadt belagert wird?
Wir hatten uns ja mehrmals getroffen, wir kennen uns. Also fragte ich ihn: «Wie geht es dir? Bist du verletzt?»

Welchen Eindruck machte Selenski auf Sie?
Er war tief betroffen, aber willens zu kämpfen.

Auf der anderen Seite steht Wladimir Putin: Er führt einen Angriffskrieg, seine Armee tötet Zivilisten, zerstört zivile Infrastruktur. Ist Putin ein Kriegsverbrecher?
Das müssen die Gerichte entscheiden. Der Internationale Strafgerichtshof beschäftigt sich damit. Die Schweiz unterstützt Initiativen, die jetzt Beweise sammeln.

Wie kann man Russland dazu bewegen, den Krieg zu beenden? USA und EU haben angetönt, dass sie gezielt die Vermögen der Oligarchen blockieren werden. Zieht die Schweiz mit?
Auf der Sanktionsliste der EU sind auch viele Oligarchen. Diese sind jetzt direkt betroffen: Sie können in der Schweiz nicht mehr über ihr Geld verfügen.

Von welchen Summen sprechen wir da?
Diese Informationen haben wir nicht. Was wir wissen: In der Schweiz leben ziemlich viele Oligarchen. Wir haben deshalb nicht nur die Sanktionsliste der EU übernommen, sondern auch Einreisesperren gegen fünf zusätzliche Personen verhängt. Zusammen mit der gesamten westlichen Welt sind wir willens, die Entourage von Präsident Putin so unter Druck zu setzen, dass er merkt: Der Krieg hat einen Preis. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, Russinnen und Russen nicht allein wegen ihrer Nationalität zu verurteilen. Viele von ihnen wollen diesen Krieg auch nicht.

Unser Land ist eine wichtige Drehscheibe für den russischen Rohstoffhandel. Warum unterbindet dies die Schweiz nicht?
Weil auch die EU den Rohstoffmarkt nicht sanktioniert hat. Es gibt keine totale Handelsblockade.

Aber müsste man nicht genau dort ansetzen, wenn man Russland treffen will?
Warum die EU das bisher nicht gemacht hat, kann Ihnen nur die EU sagen. Ich nehme an, dass es dafür mehrere Gründe gibt. Einer davon ist sicher, dass man die Menschen nicht in kalten Häusern sitzen lassen will. Die Staaten haben auch eine Verantwortung gegenüber ihrer Bevölkerung. Deshalb läuft das Gas weiterhin durch die Pipeline Nord Stream 1 – heute genauso wie vor zwei Wochen.

Die Schweiz setzte lange auf eine sehr offensive Wirtschaftspolitik gegenüber China, aber auch gegenüber Russland. Wenn wir nun sehen, dass Moskau in Europa einen Krieg vom Zaun bricht und Peking immer forscher auftritt – ist es dann Zeit für eine Kehrtwende?
Die Beziehungen mit China sind heute schwieriger als früher. Aber wir haben traditionell eine Politik der offenen Beziehungen zu allen Staaten. In Bezug auf Russland sind im Moment alle Länder in Europa in der gleichen Situation. Nach diesem Krieg wird nichts mehr so sein, wie es war. Wir müssen die Sicherheitsarchitektur Europas neu denken. Ich hoffe, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die OSZE, auch in Zukunft als Gefäss dafür dienen wird. Dafür setzen wir uns ein. Ich selbst habe im Januar in Wien einen entsprechenden Aktionsplan vorgestellt. Dazu kommen neue Fragen, wie jene nach dem Rohstoffhandel und den Beziehungen zu autokratischen Staaten.

Apropos: Wie hat Russland eigentlich auf die Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz reagiert?
Bisher sehr zurückhaltend. Die einzige Reaktion war, dass Russland den Luftraum für Schweizer Flugzeuge gesperrt hat, nachdem wir den Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt hatten. Wobei wir natürlich nicht wissen, was Russland morgen entscheiden wird. Unsere Vertreter in Moskau stehen in Kontakt mit dem russischen Aussenministerium, die Gespräche laufen weiter.

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