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BLICK fragt nach
Warum gehts es nicht ohne Tierversuche?

Mäuse, Ratten, Hunde, Affen und sogar Fische. Sie alle müssen, wenn es nach dem Nationalrat ginge, weiter für Experimente herhalten. Toxikologe Marcel Leist erklärt, wie man Tierversuche ersetzen könnte – und warum es dafür noch zu früh ist.
Publiziert: 10.03.2021 um 12:13 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 08:23 Uhr
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Die Initiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» wurde 2019 eingereicht.
Foto: Zvg
Noa Dibbasey

«Weil es grausam ist und weil es bessere Forschung gibt: Tiere raus aus den Laboren!» – das fordern die St. Galler Initianten der Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot». Damit wollen die Initianten Tierversuche in der Bundesverfassung als Quälerei und «Verbrechen» einzustufen – und sie wollen auch Versuche an Menschen verbieten. Vor beinahe zwei Jahren wurde sie mit fast 124'000 Stimmen eingereicht. Heute wurde diese im Nationalrat zur Ablehnung empfohlen.

Für alle Fraktionen geht die Initiative zu weit. Sie gefährde die Forschung und den medizinischen Fortschritt. «Die Schweiz hat eine der strengsten Tierversuchsregelungen», erklärt FDP-Nationalrätin Maja Riniker im Rat – deswegen bietet will die grosse Kammer auch keinen Gegenvorschlag ausarbeiten. Um die Initiative einzuordnen, fragt BLICK bei einem nach, der es wissen muss: Toxikologe Marcel Leist untersucht seit 20 Jahren Alternativmethoden zu Tierversuchen.

BLICK: Herr Leist, sind Sie grundsätzlich auch dafür, dass alle Tier- und Menschenversuche verboten werden?

Marcel Leist: Pauschalisierungen sind immer schwierig. Vor allem wenn Tier- und Menschenversuche zusammen geworfen werden. Da bin ich nicht dafür – das könnte schreckliche Folgen haben, denn die Wissenschaft ist noch nicht so weit.

Welche Forschung geht denn nicht ohne Tierversuche?

In Europa werden jährlich 10 bis 15 Millionen Tierversuche durchgeführt – in vielen Fällen würden sich diese relativ leicht ersetzen lassen. Aber für die Entwicklung von Tiermedikamenten zum Beispiel, wo das Produkt ähnlich wie beim «Menschenversuch» ganz am Schluss der Erforschung an Tieren getestet wird, braucht es natürlich Tierversuche. Diese können auch bei strengen moralischen Werten vertreten werden, finde ich.

Aber Sie sind ja dafür ausgezeichnet worden, Chemikalientests entwickelt zu haben, die ohne Tierversuche auskommen. Warum haben Sie diese Tests entwickelt?

Ich bin stark dafür, Tierversuche einzuschränken und wo es Alternativmethoden gibt, abzuschaffen. Um die Sicherheit einer Haushaltschemikalie oder eines Kosmetikartikels zu testen, ist der Tierversuch nur eine von vielen Möglichkeiten. Hier finde ich es nicht gerechtfertigt, Tierversuche zu erlauben.

Wie funktionieren denn die Tests, die Sie entwickelt haben?

An der Uni Konstanz fokussieren wir uns auf Nerven- und Gehirnentwicklung. Dafür produzieren wir kleine Gehirngewebe, deren chemische und elektrischen Abläufe gleich funktionieren wie beim Menschen. So können wir testen, ob sich gewisse Substanzen giftig auf das menschliche Nervensystem oder dessen Entwicklung auswirken. Während bei Tierversuchen pro Substanz 1200 Tiere getestet werden müssen, können wir das in der Kulturschale viel schneller erforschen. Und wir testen gleich menschliche Nervenzellen statt die einer Ratte.

Klingt doch, als ob das ohnehin der bessere Weg ist als Tiere zu quälen.

Das stimmt. 70 bis 90 Prozent der Tierversuche sind bereits durch solche Alternativmethoden ersetzt worden. Die Pharmaindustrie macht das aber nicht aus ethischen Gründen, sondern weil sie besser funktionieren und schneller und billiger sind.

Die Initianten argumentieren, 95 Prozent der Medikamente, die heute an Tieren getestet werden, kämen gar nie auf den Markt – weil sie beim Menschen versagen. Stimmt das?

Die Erfolgschance von fünf Prozent variiert natürlich von Bereich zu Bereich. Aber es ist tatsächlich so, dass die allermeisten Produkte am Tier funktionieren – und beim Menschen dann keine Wirkung zeigen. Nur andersrum gibt es auch keine Beweise dafür, dass die Erfolgsrate höher wäre, wenn man Medikamente an Zellkulturen testet. Nur weil sie schneller und billiger sind, heisst das nicht, dass sie einen höheren Wirkungsgrad haben. Da sind die Forschungen noch nicht so weit.

Kommen die Initianten mit ihrem Anliegen also zu früh?

Das könnte man so sagen. Auch schon heute sollten weniger Tier- und mehr Zellkulturversuche durchgeführt würden. Aber die Vertrauensbildung in eine neue Technik dauert eine Weile. Da braucht es eine Übergangsphase und in dieser befinden wir uns noch.

Die 3R-Regel

Bereits heute sind Tierversuche prinzipiell verboten. Damit Universitäten und Forschungslabore solche Versuche durchführen dürfen, braucht es eine Sondergenehmigung – und die bekommt man nur mit guter Begründung. Dabei gilt die 3R-Regel, um die Versuche auf ein Minimum zu reduzieren: Replace, reduce, refine.

Replace – Ersetzen: Als erste Priorität versucht man Tierversuche zu ersetzen. Wenn Alternativmethoden gleich gute Ergebnisse liefern, darf der Tierversuch laut Schweizer Tierschutzgesetz nicht durchgeführt werden.

Reduce – Reduzieren: Wenn die Alternativen zu Tierversuchen wissenschaftlich nicht gleich gut sind, probiert man, den Testbereich auf ein Minimum zu reduzieren – also eine kleinere Testgruppe nehmen. Toxikologe Marcel Leist erklärt das so: «Man stellt intelligente Überlegungen mit Vorinformationen an, wie man das Ganze vereinfacht angehen könnte.»

Refine – Verbessern: Ist auch keine Reduktion der benötigten Tiere für den Versuch möglich, so soll der Schmerz und der Stress für die Tiere möglichst klein gehalten werden. Hier gilt jedoch das umstrittene Prinzip der Güterabwägung. Dabei stellt sich die Frage: Wie gross ist das Leid des Tiers im Vergleich zum Vorteil für den Menschen. «Ich mag diesen Begriff im Zusammenhang mit Tierversuchen nicht, weil die Waage nicht gerecht ist», erklärt Leist. Die Tiere hätten dabei ja immer einen Nach- und niemals einen Vorteil.

Erstmals wurde die 3R-Regel 1959 in einem Buch von zwei Oxford-Professoren erwähnt. Heute gilt der Ansatz in Europa als Norm und entspricht dem Gesetz.

imago images/Rupert Oberhäuser

Bereits heute sind Tierversuche prinzipiell verboten. Damit Universitäten und Forschungslabore solche Versuche durchführen dürfen, braucht es eine Sondergenehmigung – und die bekommt man nur mit guter Begründung. Dabei gilt die 3R-Regel, um die Versuche auf ein Minimum zu reduzieren: Replace, reduce, refine.

Replace – Ersetzen: Als erste Priorität versucht man Tierversuche zu ersetzen. Wenn Alternativmethoden gleich gute Ergebnisse liefern, darf der Tierversuch laut Schweizer Tierschutzgesetz nicht durchgeführt werden.

Reduce – Reduzieren: Wenn die Alternativen zu Tierversuchen wissenschaftlich nicht gleich gut sind, probiert man, den Testbereich auf ein Minimum zu reduzieren – also eine kleinere Testgruppe nehmen. Toxikologe Marcel Leist erklärt das so: «Man stellt intelligente Überlegungen mit Vorinformationen an, wie man das Ganze vereinfacht angehen könnte.»

Refine – Verbessern: Ist auch keine Reduktion der benötigten Tiere für den Versuch möglich, so soll der Schmerz und der Stress für die Tiere möglichst klein gehalten werden. Hier gilt jedoch das umstrittene Prinzip der Güterabwägung. Dabei stellt sich die Frage: Wie gross ist das Leid des Tiers im Vergleich zum Vorteil für den Menschen. «Ich mag diesen Begriff im Zusammenhang mit Tierversuchen nicht, weil die Waage nicht gerecht ist», erklärt Leist. Die Tiere hätten dabei ja immer einen Nach- und niemals einen Vorteil.

Erstmals wurde die 3R-Regel 1959 in einem Buch von zwei Oxford-Professoren erwähnt. Heute gilt der Ansatz in Europa als Norm und entspricht dem Gesetz.

Der Pharmakonzern Roche warnt, dass wir bei einem Ja zur Initiative keine Impfstoffe mehr bekämen. Stimmt das?

Nein. Gerade die Corona-Impfstoffe wären alle genau gleich entwickelt worden. Die Impfstoffe konnten nur dank Zellkulturen so schnell hergestellt werden. Viele dieser Impfstoffe wurden sogar erst am Menschen und danach am Tier getestet. Und die Tierversuche wurden bloss gemacht, weil diese gesetzlich vorgegeben sind.

Warum wehrt sich die Pharmabranche dann gegen ein Verbot?

Auch Konzerne wie Roche wissen, wie oft Tierversuche versagt haben und arbeiten deswegen selbst stark an Alternativmethoden. Die Pharma-Industrie schlägt sich aber oft gegen solche Initiativen, weil sie befürchtet, dass man ihr die Möglichkeit für Tierversuche komplett wegnimmt – denn dann könnten sie nicht mehr in Länder exportieren, in denen diese gesetzlich vorgeschrieben sind.

Aber wenn es um Versuche am Menschen geht, dann hat Roche also Recht?

Ja – schliesslich will man ja nicht einen Impfstoff entwickeln, von dem man die Wirkung auf den Menschen nicht kennt. Hier ist die Frage, ab welchem Punkt etwas als Menschenversuch gilt. Man kann Versuche am Menschen aber schlecht mit Tierversuchen vergleichen. Denn sie werden erst dann durchgeführt, wenn klar ist, dass die Produkte keine Schäden am Menschen hinterlassen.

In der EU sind Tierversuche für Kosmetika seit 2013 strikt verboten. Das klappt ja auch?

Das Gesetz wurde bereits 2003 verabschiedet – so hat man der Industrie zehn Jahre Zeit gegeben, Alternativmethoden zu entwickeln. Dadurch wurden diese natürlich massiv angetrieben. Mittlerweile gibt es künstliche menschliche Haut, um Sonnencreme zu testen, und künstliche Menschliche Immunsysteme für Allergietestungen. Da sieht man, was mit ein wenig Druck passieren kann.

Das könnte man ja auf die Initiative übertragen. Wenn man den Firmen zehn Jahre Zeit liesse, Tierversuche zu streichen, hätte das nicht denselben Effekt?

Ja, grundsätzlich schon. Aber ich warne davor, so zu verallgemeinern. Bei der Kosmetika war klar: Wenn nichts Neues entwickelt werden kann, überlebt die Menschheit trotzdem. In der Medizin ist das nicht ganz so einfach.

Über Marcel Leist

Marcel Leist (56) hat seit 2006 die Professur für In-Vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz inne. Zusätzlich ist der 56-Jährige Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing (Zentrum für Alternativen zu Tierversuchen) in Europa.

Leist studierte Biochemie in Tübingen und schloss daraufhin 1989 sein Master-Studium in Toxikologie an der University of Surrey (UK) ab. 1993 promovierte er in Konstanz in Pharmakologie und schloss schliesslich seine Professur in Toxikologie und Zellbiologie 1998 ab.

Marcel Leist (56) hat seit 2006 die Professur für In-Vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz inne. Zusätzlich ist der 56-Jährige Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing (Zentrum für Alternativen zu Tierversuchen) in Europa.

Leist studierte Biochemie in Tübingen und schloss daraufhin 1989 sein Master-Studium in Toxikologie an der University of Surrey (UK) ab. 1993 promovierte er in Konstanz in Pharmakologie und schloss schliesslich seine Professur in Toxikologie und Zellbiologie 1998 ab.

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