Sie ist das Herzstück des schweizerischen Sozialstaats: Die AHV. Die AHV (1. Säule) bildet zusammen mit der beruflichen Vorsorge (2. Säule) und der privaten Vorsorge (3. Säule) das Drei-Säulen-Prinzip, auf welchem die gesamte Altersvorsorge basiert.
Die Altersvorsorge sorgt immer wieder für heftige politische Auseinandersetzungen. Über 20 Mal wurde das Stimmvolk in den letzten 100 Jahren an die Urne gerufen, um über das Schicksal der Altersvorsorge – im Zentrum stand dabei meist die AHV – zu entscheiden.
Auch diesen Sonntag heisst es für das Stimmvolk einmal mehr, die Weichenstellung für die Altersvorsorge zu bestimmen. Grund genug für einen Rückblick auf die bewegte Geschichte der Rentenentscheide an der Urne.
1925: AHV kommt in die Verfassung
> 1925: Die Idee einer nationalen Altersversicherung wird schon während Jahrzehnten diskutiert und gewinnt nach dem Landesstreik 1918 an Schub, als das Stimmvolk erstmals darüber befindet. Am 24. Mai 1925 wird die von einem freisinnigen Nationalrat lancierte Volksinitiative zur Schaffung der AHV zwar klar abgelehnt (58 Prozent Nein), doch schon am 6. Dezember 1925 sagt das Stimmvolk mit 65 Prozent Ja zu einem vom Parlament beschlossenen AHV-Artikel. Dieser sieht eine andere Finanzierung vor als die Volksinitiative. Die Grundlage für die Einführung der AHV ist damit gelegt.
> 1931: Auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Ja zum AHV-Artikel scheitert das erste Umsetzungsgesetz mit 60 Prozent Nein. Vorgesehen waren relativ bescheidene Einheitsrenten von 200 Franken jährlich ab 65 – finanziert über Lohnbeiträge sowie Alkohol- und Tabaksteuern. Vor allem konservative Kreise machen gegen das Gesetz mobil, sie wollen keinen «Staatssozialismus». Doch auch die Kommunisten kämpfen gegen die aus ihrer Sicht ungenügende «Bettelsuppe». Gleichentags wird auch die Zigarettensteuer zugunsten der AHV bachab geschickt – allerdings nur knapp mit 50,1 Prozent Nein.
> 1947: Das Ringen um die AHV geht auch in den nächsten Jahren weiter. Am 6. Juli 1947 ist es endlich geschafft, das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenversicherung nimmt mit 80 Prozent Ja an der Urne die letzte Hürde.«Das ist mein schönster Tag im Bundesrat», jubelt der Solothurner FDP-Bundesrat Walther Stampfli, der als damaliger Volkswirtschaftsminister das Geschäft durchbringt. Bei der Einführung 1948 beträgt die Minimalrente gerade mal 40 Franken pro Monat.
> 1952: Das AHV-Gesetz regelt auch die fiskalische Belastung des Tabaks zugunsten der AHV. Die Bestimmungen bezüglich Zöllen und Abgaben werden angepasst. Bei der Vorlage steht allerdings die Tabakkontingentierung und damit Tabakindustrie im Vordergrund – und nicht die AHV selbst. Die Anpassungen kommen mit 68 Prozent Ja klar durch.
1972: Ja zum Drei-Säulen-Prinzip
> 1972: Am 3. Dezember 1972 entscheidet das Stimmvolk gleich über zwei Vorlagen zur Altersvorsorge – dabei geht es um einen eigentlichen Richtungsentscheid. Die kommunistische Partei der Arbeit will mit einer Volksinitiative die AHV stark – zu einer «wirklichen Volkspension» – ausbauen. Die Renten sollen dafür mindestens 60 Prozent der fünf besten Einkommensjahre betragen – mit einer Spannbreite von damals 500 bis 1000 Franken monatlich für eine Einzelrente und 800 bis 1600 Franken für eine Ehepaar-Rente. Zum Vergleich: Die minimale AHV-Rente für Alleinstehende beträgt damals 2640 Franken, ein durchschnittliche Arbeiterlohn in etwa 23'000 Franken pro Jahr. Gleichzeitig sollen die Vermögen der beruflichen Vorsorge in die AHV überführt werden.
Diese Initiative geht selbst der SP und den Gewerkschaften zu weit. Stattdessen setzen sie sich zusammen mit den bürgerlichen Parteien für einen Gegenvorschlag ein, der einen Ausbau von AHV wie auch der zweiten Säule vorsieht. Die berufliche Vorsorge wird dabei für obligatorisch erklärt und gleichzeitig die Idee des noch heute geltenden Drei-Säulen-Prinzips verankert. Die Initiative wird daraufhin mit 78,6 Prozent wuchtig abgelehnt, der Gegenvorschlag ebenso deutlich mit 74 Prozent Ja angenommen.
1978: Nein zur Rentenaltersenkung
> 1978: Achtmal wird die AHV reformiert, ohne dass es zu einer Volksabstimmung kommt. Erst gegen die 9. AHV-Revision wird erstmals das Referendum ergriffen – von rechten Kreisen, die sich an der geplanten fünfprozentigen Rentenerhöhung und den höheren Beiträgen für Selbstständigerwerbende stören. Die grossen bürgerlichen Parteien stehen offiziell aber hinter der Reform, auch wenn viele Kantonalsektionen die Nein-Parole beschliessen. Die Vorlage, mit welcher auch der Mischindex eingeführt wird, kommt am 26. Februar 1978 mit 66 Prozent Ja locker durch.
Gleichentags erleidet die Initiative der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) zur Senkung des Rentenalters von 65 auf 60 Jahre für Männer und von 62 auf 58 Jahre für Frauen deutlich Schiffbruch. Der Ja-Stimmenanteil beträgt nur gerade 21 Prozent. Einzig die äussere Linke setzt sich für das Anliegen ein. Selbst SP und Gewerkschaften sagen Nein.
> 1988: Zehn Jahre nach dem massiven Nein gegen die Herabsetzung des Rentenalters starten die POCH einen neuen Anlauf. Mit einer leicht gemässigteren Forderung: Ihre Volksinitiative verlangt diesmal nur noch eine Senkung des AHV-Alters auf 62 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen. Diesmal sind auch die linken Parteien und die Gewerkschaften mit im Boot. Das Ergebnis bleibt aber dasselbe: Am 12. Juni 1988 sagt das Stimmvolk mit 65 Prozent zwar etwas weniger deutlich, aber immer noch klar genug Nein. Die Initiative wird vor allem aus finanziellen Überlegungen abgelehnt.
1993: Ja zum AHV-Prozent
> 1993: Am 28. November 1993 heisst das Stimmvolk die Einführung der Mehrwertsteuer gut. In einer separaten Vorlage kommt auch ein zusätzliches Mehrwertsteuer-Prozent zugunsten der AHV auf den Tisch – und mit 63 Prozent Ja auch durch. Das AHV-Prozent wird damit noch nicht beschlossen, sondern das Parlament ermächtigt, dieses im Bedarfsfall zu erheben. Erst ab 1999 ist dies der Fall – und seither ein wichtiger Zustupf in die AHV-Kasse. So bringt das Zusatzprozent der AHV 2015 immerhin 2,3 Milliarden Franken ein.
> 1995: Mit der 10. AHV-Revision wird das Frauenrentenalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre erhöht und der Rentenvorbezug ermöglicht. Im Gegenzug werden das Rentensplitting sowie Erziehungs- und Betreuungsgutschriften eingeführt. Wegen der Erhöhung des Frauenrentenalters ergreifen die Gewerkschaften das Referendum. Um die aus ihrer Sicht positiven Errungenschaften nicht zu gefährden, lancieren sie eine Volksinitiative für die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Frauenrentenalters. Speziell ist die Rolle der SP: Sie unterstützt die Revision, aber auch die Initiative. Am 20. Juni 1995 kommt die Revision mit 61 Prozent Ja durch.
Keine Chance hat hingegen gleichentags eine Volksinitiative von SP und Gewerkschaften, die einen Ausbau von AHV und IV verlangt. Sie möchte insbesondere die AHV zulasten der zweiten Säule stärken und sie damit zu einer «Volksversicherung» mit existenzsichernden Renten machen. Mit 72 Prozent Nein wird die Initiative bachab geschickt.
> 1998: Das Stimmvolk zeigt sich am 27. September 1998 konsequent. Drei Jahre nach seinem Ja zu 10. AHV-Revision lehnt es die Volksinitiative für die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Frauenrentenalters mit 59 Prozent Nein ab.
2000: Gegen Ruhestandsrente ab 62
> 2000: Und schon wieder entscheidet das Stimmvolk im Doppelpack – und beide Male geht es um das Rentenalter. Sowohl die Volksinitiative des Kaufmännischen Verbands wie auch jene der Grünen haben eine ähnliche Zielsetzung: Eine Ruhestandsrente ab 62, sofern man die Erwerbstätigkeit aufgibt. Allerdings möchten die Grünen bei teilweiser Aufgabe der Erwerbstätigkeit auch Teilrenten ermöglichen. Ab wann die Altersrente für weiterhin Erwerbstätige bezahlt wird, wird dem Gesetzgeber überlassen. Die Klärung dieser Frage erübrigt sich aber: Am 26. November 2000 lehnt das Stimmvolk beide Initiativen mit 61 bzw. 54 Prozent Nein ab.
> 2001: Die Grünen schlagen mit ihrer Volksinitiative eine neue Finanzierungsquelle für die AHV vor. «Energie statt Arbeit besteuern», lautet ihr Motto. Eine neue Energiestelle zugunsten der AHV-Kasse soll die Lohnprozente ganz oder zumindest teilweise ersetzen. Am 2. Dezember 2001 begräbt das Stimmvolk die Idee – mit 77 Prozent Nein.
> 2002: Und schon wieder kommt ein neuer AHV-Finanzierungsvorschlag vors Volk. Diesmal sollen es die überschüssigen Goldreserven richten. Es geht um 1300 Tonnen Gold! Um zu verhindern, dass ein Teil davon in eine Stiftung zugunsten von Holocaust-Opfern fliesst, lanciert diesmal die SVP eine Volksinitiative, die sämtliche nicht benötigten Goldreserven und deren Erträge dem AHV-Fonds zufliessen lassen will. Das Parlament kontert mit einem Gegenvorschlag: Der Verkaufserlös kommt in einen Fonds, dessen Erträge während 30 Jahren zu je einem Drittel der AHV, den Kantonen und der Solidaritätsstiftung zufliessen. Am 22. September 2002 scheitern beide Vorlagen – die Volksinitiative mit 51 Prozent Nein, der Gegenvorschlag mit 50 Prozent Nein.
2004: 11. AHV-Revision erleidet Schiffbruch
> 2004: Mit der 11. AHV-Revision versucht der Bundesrat ein ausgewogenes Paket vorzulegen. Der Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahr steht die Einführung eines sozial abgefederten, flexiblen Rentenalters gegenüber. «Das Parlament hat daraus eine reine Abbauvorlage gemacht», sagt alt Bundesrätin Ruth Dreifuss jüngst im BLICK-Interview. So bleibt praktisch nur noch die Erhöhung des Frauenrentenalters übrig. Gewerkschaften, SP und Grüne ergreifen das Referendum – und am 16. Mai 2004 fällt die Vorlage beim Volk mit 68 Prozent Nein klar durch. Zum ersten Mal erleidet eine AHV-Revision vor dem Volk Schiffbruch. Bürgerliche und Wirtschaftsverbände holen sich eine blutige Nase.
Doch auch die Linke muss gleichentags eine Niederlage einstecken. Denn das Stimmvolk lehnt gleichentags auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV um ein Prozent (bei Bedarf) und der IV um 0,8 Prozent (ab 2005) ab. Und zwar ebenfalls wuchtig mit 69 Prozent. Speziell ist die Rolle der FDP: Im Parlament unterstützt sie die Vorlage, beschliesst im Abstimmungskampf aber dann doch die Nein-Parole.
2006: Doch noch Gold für die AHV
> 2006: Am 24. September 2006 entscheidet das Stimmvolk erneut über einen Finanzierungsvorschlag. Linke Kreise lancieren eine Volksinitiative, mit welcher die Nationalbankgewinne – abzüglich einer Überweisung von jährlich einer Milliarde Franken an die Kantone – in die AHV-Kasse fliessen. Die Initiative geniesst auch in der SVP Sympathien. So entscheidet sich das Parlament schliesslich für einen indirekten Gegenvorschlag: Wird die Initiative abgelehnt, erhält die AHV sieben Milliarden Franken aus dem Verkauf der überschüssigen Goldreserven. So kommt es denn auch: Das Volk lehnt die Initiative mit 58 Prozent Nein ab – und der AHV-Fonds profitiert trotzdem von einer Milliarden-Spritze.
> 2008: Die Grünen unternehmen erneut einen Versuch, das Rentenalter mittels Flexibilisierung auf grundsätzlich 62 Jahre für Männer und Frauen zu senken. Es bleibt beim Versuch, denn das Stimmvolk hat wieder kein Gehör für das Anliegen. Am 30. November 2008 sagen 59 Prozent Nein.
> 2010: Am 7. März 2010 kommt zum ersten Mal eine Revision des Gesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) vors Volk. Grund ist die geplante Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf neu 6,4 Prozent, wogegen Gewerkschaften und Linke das Referendum ergriffen haben. Die bürgerlichen Parteien erleben ein Waterloo: Das Stimmvolk lehnt die Vorlage mit 73 Prozent Nein ab.
> 2015: Eine nationale Erbschaftssteuer – zumindest zwei Drittel davon – soll die AHV-Finanzen aufbessern. Das verlangt eine von der EVP lancierte Volksinitiative, die auch von SP und Grünen unterstützt wird. Das Verdikt gegen diese Form von AHV-Zustupf ist aber deutlich – am 14. Juni 2015 sagt das Stimmvolk mit 71 Prozent Nein.
> 2016: Am 25. September 2016 erteilt das Stimmvolk einem AHV-Ausbau eine deutliche Abfuhr. Mit 59 Prozent Nein lehnt es die von den Gewerkschaften lancierte AHV-Plus-Initiative ab, die eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent fordert. Damit bleibt das Stimmvolk seiner bisher vorsichtigen Linie in Sachen AHV-Ausbau treu.
2017: Der grosse Rentenkompromiss
> 2017: Fast ein Jahr genau nach dem Nein zur AHV-Plus-Initiative entscheidet das Stimmvolk am 24. September 2017 über den Rentenkompromiss von SP-Bundesrat Alain Berset (45). Im Gesetz über die Reform der Altersvorsorge 2020 soll mit einem ausgewogenen Paket das Stimmvolk für ein Ja gewonnen werden.
Kernpunkt: Die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre und die Senkung des Mindestumwandlungssatzes in der zweiten Säule sollen durch einen moderaten AHV-Ausbau ausgeglichen werden. Einzelrenten von Neunrentnern steigen um 70 Franken pro Monat. Ehepaare erhalten dank eines höheren Plafonds künftig bis zu 226 Franken mehr monatlich. In einer zweiten Vorlage entscheidet das Stimmvolk über die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,6 Prozent zugunsten der AHV.
SP, CVP, Grüne, BDP, Grünliberale und Gewerkschaften kämpfen gemeinsam für den Rentenkompromiss. FDP, SVP und Deutschschweizer Wirtschaftsverbände ist der 70-Franken-AHV-Zustupf ein Dorn im Auge, weshalb sie die Reform vehement ablehnen. Das Referendum hingegen haben Linksaussenparteien aus der Romandie ergriffen. Scheitert die Reform, dürfte die Deutung des Resultats also schwierig werden.