Der Fall machte diese Woche landesweit Schlagzeilen: Im Dezember 2019 hatte eine Frau versucht, Alain Berset (48) um 100'000 Franken zu erpressen.
Nachdem die «Weltwoche» den Vorgang öffentlich machte, meldete sich der Anwalt des SP-Bundesrats zu Wort. Im SonntagsBlick erklärte er, die Sache sei mit der Verurteilung der Täterin eigentlich erledigt. Und er ergänzte: «Ihn belastet eher, dass seit Ausbruch der Corona-Pandemie teils massive Morddrohungen gegen ihn eingehen.» Daraufhin wurde auch der Fall des Berner Gesundheitsdirektors Pierre Alain Schnegg (57) publik: Corona-Leugner hatten über den Kommunikationsdienst Telegram den Wohnort des SVP-Regierungsrats verbreitet – und davon schwadroniert, Schnegg und seiner «netten Frau» einen Besuch abzustatten. So berichtete es die «Berner Zeitung».
Die beiden Exekutivpolitiker sind aufgrund ihrer Zuständigkeiten während der Covid-Pandemie besonders exponiert. Doch Drohungen und Erpressungsversuche gehören auch für etliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier zum Alltag. Was ebenfalls mit Corono zu tun hat – aber nicht nur.
Umfrage bei 102 Parlamentsmitglieder
SonntagsBlick fragte bei den 246 National- und Ständeräten nach, ob sie im Lauf ihrer politischen Tätigkeit schon einmal Drohungen oder Erpressungsversuchen ausgesetzt waren. 102 Parlamentsmitglieder gaben Auskunft, was rund 40 Prozent der Bundesversammlung entspricht. Gemäss eigenen Angaben wurden mehr als die Hälfte schon einmal bedroht, mit Erpressungsversuchen konfrontiert oder tatsächlich erpresst – aus dem einzigen Grund, dass sie in Bern politisieren.
Noch überraschender ist der Befund der zweiten Frage: 31 Prozent, also fast jeder dritte National- oder Ständerat, schaltete daraufhin die Polizei oder die Justiz ein.
Die Erlebnisse, über die Parlamentarierinnen und Parlamentarier anonym berichten, lassen tief blicken. Die Schweiz, stolz auf ihr über Jahrhunderte gewachsenes Milizsystem, muss erkennen, dass jene, die sich an vorderster Front für ihre politische Kultur engagieren, zum Teil massiv angegangen werden.
Und das gilt keineswegs nur für jene politischen Aushängeschilder, die sich regelmässig pointiert in der Presse äussern.
Etliche der Vorfälle wurden SonntagsBlick explizit geschildert. So etwa von einem Nationalrat, der kurz vor einem wichtigen Urnengang mit Parteifreunden noch ein paar Flyer unters Volk bringen wollte: «Ein Typ kam auf mich zu und sagte, dass er mich verprügle, sollte er mich in einer einsamen Gasse erwischen.» Der Politiker dachte über eine Anzeige nach, verzichtete aber darauf.
Mit Whatsapp-Chat zu den Medien
Eine Volksvertreterin begann via Whatsapp mit einem Wähler zu chatten. Woraufhin der Mann mit dem gesammelten Material zu den Medien ging und es für seine eigene Publicity nutzen wollte. Erst ein von der Politikerin eingeschalteter Anwalt konnte die Veröffentlichung unterbinden.
Die SonntagsBlick-Umfrage förderte auch einen wesentlichen Unterschied zutage: Politikerinnen sind deutlich häufiger mit Drohungen konfrontiert als deren männliche Kollegen in Bern. 66 Prozent der Teilnehmerinnen gaben an, zumindest einmal bedroht oder erpresst worden zu sein. Bei den Männern liegt der Prozentsatz 20 Punkte tiefer.
Manches, was offenbar ein Grossteil der Schweizer Politikerinnen aushalten muss, lässt sich nur schwer anständig formulieren.
Auch die welsche FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro (60) musste entsprechende Erfahrungen machen: «Schon in meiner Zeit als Waadtländer Staatsrätin wurde ich regelmässig mit Todesdrohungen und versuchter Nötigung konfrontiert.»
Die Freisinnige will nun handeln; der Schutz von exponierten Personen soll verbessert werden. Im Parlament wird de Quattro am Montag eine Motion einreichen, die Drohungen und Gewalt gegen Parlamentsmitglieder, Bundesräte, Bundesrichter und Staatsanwälte zum Offizialdelikt erklärt.
Ahnden erst bei Anzeige
Eine solche Gesetzesänderung würde bedeuten, dass Strafverfolger entsprechende Taten von Amts wegen ahnden müssen. Bislang tun sie das erst dann, wenn die betroffene Person aktiv wird und Anzeige erstattet.
«Diese Menschen werden ihrer Funktion wegen und nicht als Privatpersonen angegriffen», begründet de Quattro den Vorstoss. Es bestehe auch das Risiko, dass Hatespeech (Äusserungen von Hass) im Internet zu weiteren Taten verleiteten. Auch dies gelte es einzudämmen.
Der Aufwand für die Behörden würde mit Annahme ihrer Motion kaum signifikant grösser – wie die SonntagsBlick-Umfrage zeigt, zögern viele Vertreter der Legislative, im Ernstfall die Sicherheitsbehörden einzuschalten.
Ob ein Abklingen der Corona-Pandemie die Situation entschärft, bleibt indes offen.