In der Schweiz fahren Bundesräte mit dem Tram zur Arbeit. Sie tun dies ungestört und angstfrei – so erzählen es Eltern ihren Kindern seit Generationen. Die volksnahe Regierung und das unaufdringliche Volk, beides gehört zum Selbstbild des Landes. Ob links, rechts oder unpolitisch, auf diese Geschichte waren alle stolz. Erzählte man sie im Ausland, staunten die Zuhörer und versuchten, sich vorzustellen, wie der US-Präsident mit dem Velo ins Weisse Haus radelt. Die Leute lachten. Kaum vorstellbar! Bei uns schon. Und das war ein sehr schweizerischer Stolz.
Irgendwie ist seither einiges schiefgelaufen. Politiker werden zur Zielscheibe, nicht erst seit der Pandemie, aber seither so heftig wie nie zuvor. Die Entwicklung der vergangenen Monate am Beispiel von Gesundheitsminister Alain Berset: Angepöbelt am Zürcher Filmfestival, mit dem Tod bedroht im Internet, Opfer eines Erpressungsversuchs. Niemand scheint sicher vor diesem Zorn: Diese Woche drohten Rowdys dem Berner Gesundheitsdirektor und seiner «netten Frau» einen «Besuch» an, berichtet die «Berner Zeitung».
Jeder dritte Parlamentarier machte schon solch einschlägige Erfahrungen, wie die SonntagsBlick-Umfrage zeigt. Seit der Konzernverantwortungs-Initiative trifft es neu auch Politiker aus der Mitte.
Da kommt man ins Grübeln, wohin das noch führt. Die Schweiz wurde zum Land unter vielen. Nichts Besonderes mehr, auch das noch. Wer seinen Kids die Tram-Geschichte erzählt, berichtet über ein Märchen aus einer anderen Zeit.