Ein warmer Sommernachmittag an der Thur. Nadja Kunz* spielt mit ihrem Hund am Wasser. Ein Unbekannter beobachtet sie und folgt ihr. In einem bewaldeten Wegabschnitt entblösst er sich vor ihr und masturbiert. Das ist kein Einzelfall.
Als die junge Frau den traumatisierenden Vorfall der Polizei meldet, wird sie vor die Wahl gestellt: Die Beamten dürfen den Verdächtigen nur vernehmen, wenn sie einen Strafantrag stellt. Dann aber darf der Mann in die Untersuchungsakten Einsicht nehmen – und erfährt so Namen, Wohnadresse, Telefonnummer und Geburtsdatum des Opfers.
Zu grosses Risiko für die Opfer
Soll Nadja Kunz nun Anzeige erstatten und riskieren, dass der Mann sie auch zu Hause aufsucht und erneut belästigt? Oder lässt sie es bleiben und nimmt in Kauf, dass der Mann unbehelligt weitermachen kann, bis sich ein anderes Opfer zu einem Strafantrag durchringt?
Nadja Kunz verzichtet – wie viele Opfer von Stalkern und Exhibitionisten.
Sexuelle Belästigung und Exhibitionismus zählen zu den Antragsdelikten. Der Staat muss daher nicht von sich aus tätig werden. «Gerade Opfer von Sexualdelikten schrecken aber oft vor einem Strafantrag zurück, weil der Täter durch die Akteneinsicht Zugriff auf private Daten des Opfers erhält», sagt Fedor Bottler von der Opferberatung Zürich.
Anonymität nicht gewährleistet
Die gesetzlichen Grundlagen machen es schwer, dass ein Opfer anonym bleiben kann. «Das ist höchstens bei einer konkreten und schwerwiegenden Gefährdung der Fall, zum Beispiel im Zusammenhang mit Menschenhandel oder organisierter Kriminalität. Sexuelle Belästigung oder Exhibitionismus reichen allein sicher nicht aus, um dem Opfer Anonymität zuzusichern.»
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
Bei einem möglichen Strafverfahren bietet die Opferhilfe Unterstützung an. Sie versucht, zwischen Opfer und Strafverfolgungsbehörden zu vermitteln. «Allein schon eine Schwärzung der Adresse würde helfen. Doch das ist wie gesagt kaum möglich», sagt Bottler. In Absprache mit der Staatsanwaltschaft könnte aber statt der Wohnadresse die Geschäftsadresse des Opfers oder die Postadresse der Anwältin angegeben werden.
Wenigstens die Adresse kann geschwärzt werden
Die Zürcher Rechtsanwältin Olivia Pelli warnt jedoch vor Illusionen. Ziel der Gesetzgebung sei es, alle Parteien fair zu behandeln. Und deren Interessen stehen oft im Widerspruch zueinander. «Das Akteneinsichtsrecht ist in der Bundesverfassung und auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Beschuldigte und Verteidiger müssen die Strafakten kennen, um sich adäquat verteidigen zu können.»
«Die Strafverfolgungsbehörde wird im vorliegenden Fall insbesondere berücksichtigen, dass das Opfer die einzige Zeugin ist, und dass die Straftat relativ leicht ausfällt», so Pelli. «Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man da einer Schwärzung des Namens des Opfers zustimmt.» Eventuell könne eine Schwärzung der anderen Daten in Frage kommen, etwa Wohnadresse, Telefonnummer, Bürgerort oder Geburtsdatum.
* Name geändert