«Stell dir vor, du ziehst in eine ruhige Gemeinde, um in Frieden zu leben. Von einem Tag auf den anderen siehst du dann Polizeiautos mit heulenden Sirenen. Polizisten, die Felder und Hecken auf Drogenverstecke durchkämmen. Oder Helikopter, die über der Gegend kreisen. Das ist surreal!»
Er könnte darüber lachen, aber Dastier Richner ist müde. «Am Ende», wie er sagt. Der Familienvater wohnt keine 500 Meter vom Bundesasylzentrum in Boudry NE entfernt, dem grössten des Landes. Er sei bereits viermal von Asylsuchenden bestohlen worden, habe genug von den Unhöflichkeiten, erzählt er. 2020 gründete er darum «Bien vivre à Neuchâtel», ein Verein mit heute 200 Mitgliedern, der sich für ein «harmonisches und angstfreies Zusammenleben» einsetzt.
Auf der Internetseite des Kollektivs häufen sich die Erfahrungsberichte der Anwohner. Jemand schreibt, dass seiner Tochter im Bus an den Hintern gefasst worden sein, andere Personen erzählen von Einbrüchen und Diebstählen.
Anwohner haben Petition lanciert
Laut den offiziellen Zahlen hat die Kriminalität im Kanton Neuenburg 2022 um vier Prozent zugenommen. Fast die Hälfte der Taten, die in der Region ums Asylzentrum begangen wurden und bei denen man den oder die Täter ausfindig machen konnte, wurden von Asylbewerbern begangen. Es handelt sich um eine kleine Minderheit junger Männer aus Nordafrika, die die Anwohner verunsichern.
Einige Anwohner haben zu ihrem Schutz Überwachungskameras installiert, andere haben sich einen Hund angeschafft, der sie vor Eindringlingen warnen soll.
Ende Februar haben Richner und andere Mitglieder des Komitees eine Petition lanciert, in der sie die Umwandlung des Bundesasylzentrums in eine Unterkunft für Migrantinnen und Familien fordern. Oder die Schliessung des Zentrums innerhalb von sechs Monaten, falls sich die Situation nicht verbessert. Die Petitionäre haben bereits 1700 Unterschriften gesammelt.
Die Menschen in Boudry seien offen und gastfreundlich, betont Richner. Der Verein sei nicht politisch motiviert. «Aber in einer Gemeinde mit 6000 Einwohnern ein Asylzentrum mit 480 Plätzen einzurichten, das sogar auf 800 Plätze erweitert werden kann, ist zu viel. So können wir nicht mehr leben.»
Er fügt an, dass die Mitglieder von «Bien vivre à Neuchâtel» weitere Aktionen planen würden, sollten ihre Forderungen nicht erhört werden. Demonstrationen, Initiativen. «Wenn sich nichts bewegt, werden die Einwohner anfangen, Selbstjustiz zu üben», warnt Richner. Er glaubt, dass es zu Ausschreitungen kommt, greifen die Behörden nicht durch.
«Jeder weiss, dass es Probleme gibt»
«Es gibt ein Problem, jeder weiss es», sagt auch der Gemeindepräsident von Boudry, Gilles de Reynier. Der Anwalt hat die Petition zwar nicht unterschrieben, versteht aber die Beweggründe der Anwohnenden. Er befürwortet die Petition – weil sie Druck auf die Behörden ausübe.
Seit vergangenem November seien Massnahmen ergriffen worden, um das Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Sozialarbeiterinnen und -arbeiter wurden engagiert, die Patrouillen privater Sicherheitsdienste im öffentlichen Verkehr verstärkt. Das habe die Bevölkerung beruhigt, aber man müsse noch weitergehen, sagt de Reynier.
Bei der Aufnahme von Asylsuchenden müsse selektiert werden, fordert der Gemeindepräsident. Grünes Licht für Familien, ältere Männer und Menschen aus Kriegsländern. Junge Männer aus Nordafrika dagegen sollen abgewiesen werden. «Die kommen nicht hierher, um Schutz zu suchen. Sie touren durch die Schweiz, durch Europa, um etwas Geld zu verdienen.»
Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) sind derzeit rund 280 Personen im Bundesasylzentrum in Boudry untergebracht. Knapp ein Drittel davon alleinstehende Männer und 22 Prozent unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA), wobei Staatsangehörige aus Afghanistan und der Türkei am häufigsten vertreten sind. Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes hält das SEM die Tore des Geländes geschlossen. Besuch unmöglich.
«Probleme mit der Familie»
An einer Haltestelle vor dem Bundesasylzentrum wartet Hamza (29) mit etwas verlorenem Blick auf den Bus. Der rote Rucksack: sein einziges Hab und Gut. Er hat seine Heimat Algerien 2019 verlassen. «Probleme mit der Familie», erklärt er. In der Hand hält er einen Reiseplan, den er nicht versteht, und eine Tageskarte.
Er sei am Vortag in Boudry angekommen und habe nun 24 Stunden Zeit, um ins Asylzentrum nach Chiasso TI zu reisen, wie er erzählt. «Ich wäre gerne hier geblieben. Hier wird wenigstens Französisch gesprochen, und es gibt kleine Jobs.» Er weiss, dass Menschen aus dem Maghreb in der Region einen schlechten Ruf haben. «Natürlich gibt es Schläger, aber wir sind nicht alle gleich. Ich bin seriös, ich suche keinen Ärger und keinen Streit», sagt er, bevor er in den Bus steigt.
Da ist auch Ayoub (20) aus Algerien. Wie Hamza ist auch er am Vortag im Zentrum angekommen. Ayoub hat bereits Frankreich, die Niederlande, Deutschland und Belgien durchquert und er gesteht, dass er nicht wisse, wie seine Zukunft aussehen werde. Er hofft auf einen Job in der Küche.
Oder Amir aus Kuwait, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern gekommen ist. Sie hätten zuvor drei Jahre in Griechenland gelebt, aber die Bedingungen seien zu schwierig gewesen. Nun will er sein Glück in der Schweiz versuchen. Bis sein Asylgesuch geprüft ist, schläft er, geht auf den Markt und arbeitet, wo er kann.
Umgezogen, weil sie «Schikanen» nicht mehr ertragen konnte
In der Bahn, die Neuenburg mit Boudry verbindet, erzählt Anwohnerin Mathilde Michaud (18), dass sie in öffentlichen Verkehrsmitteln bereits belästigt worden sei. Sie sagt: «Ich fühle mich nicht immer sicher. Aber traumatisiert hat mich das nicht.» Meistens laufe es sehr gut mit den Asylsuchenden.
Anders sieht das Justine Fortin (25). Sie habe die täglichen Schikanen nicht mehr ertragen können, erzählt sie. Sie verliess Boudry schliesslich und zügelte in eine andere Gemeinde. Sie betont, dass sie «nicht alle über einen Kamm scheren» wolle. Es sei eine kleine Minderheit, die Probleme mache. «Ich bin dafür, Menschen aufzunehmen, die wirklich Zuflucht brauchen. Aber nicht diejenigen, die das Asylsystem ausnutzen», sagt sie.
Der Umzug habe ihrer in der Seele weh getan, erzählt sie. «Aber ich muss an meine Zukunft denken. Denn wenn ich Kinder habe, möchte ich nicht, dass sie in dieser Umgebung aufwachsen. Aber ich weiss, dass ich eines Tages zurückkehren werde.»