Antisemitismus nimmt zu – Schweizer Juden sind besorgt
«Ich möchte nicht, dass meine Kinder draussen eine Kippa tragen»

Der Nahostkonflikt zeigt Folgen. Seit dem 7. Oktober 2023 erleben Juden in der Schweiz eine Antisemitismuswelle. «Unser Leben hat sich verändert», sagt Zsolt Balkanyi-Guery, Rektor einer jüdischen Schule und Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
Publiziert: 18.03.2025 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.03.2025 um 15:37 Uhr
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Zsolt Balkanyi-Guery ist Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
Foto: Philippe Rossier
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Zsolt Balkanyi-Guery ist Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.
Foto: Philippe Rossier
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Lucien FluriCo-Ressortleiter Politik

Der Weg ins Büro von Zsolt Balkanyi-Guery (50) führt durch eine Sicherheitsschranke. Rund um die jüdische Schule Noam in Zürich gibt es Sicherheitsmassnahmen, bis hin zu kugelsicherem Glas rund um den Pausenplatz. Es ist ein Zeichen dafür, dass Jüdinnen und Juden in der Schweiz nicht gleich sorgenfrei leben können wie andere Schweizer.

Gerade 2024 zeigt sich dies: Rektor Balkanyi-Guery ist auch Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Jährlich gibt sie mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund einen Bericht zu antisemitischen Vorfällen heraus. Nach dem Terroranschlag am 7. Oktober 2023 kam es auch in der Schweiz zu einer Antisemitismuswelle. «Aussagen und Übergriffe haben stark zugenommen. Jüdische Menschen in der Schweiz erleben Antisemitismus direkter und unverhohlener als zuvor», schreibt die Stiftung. «Ein versuchter Brandanschlag auf eine Synagoge und elf Tätlichkeiten verdeutlichen diese Dynamik.» 221 antisemitische Vorfälle wurden 2024 in der Schweiz gezählt, 42,5 Prozent mehr als im Vorjahr.

Blick: Wie hat sich Ihr Leben seit der Geiselnahme am 7. Oktober und mit dem folgenden Nahostkrieg verändert?
Zsolt Balkanyi-Guery: Das war eine Zäsur. Viele Jüdinnen und Juden in der Schweiz haben Verwandte in Israel, das Schicksal der Geiseln bewegte tief. Auch in der Schweiz sind die Zeiten unsicherer geworden. Wir sahen in Zürich Solidaritätskundgebungen für Palästina, in denen antisemitische Parolen geäussert wurden. Und es gab im März 2024 den Messerangriff in Zürich-Selnau auf einen orthodoxen Juden. Das alles hat unser Leben verändert.

Das heisst, Sie spüren dort ganz konkret Auswirkungen, auch hier in der Schweiz?
Ja. Es gibt laut einer Umfrage zunehmend Jüdinnen und Juden in der Schweiz, die nicht mehr öffentlich zeigen, dass sie jüdisch sind. Wir haben Leute, die über das Auswandern nachdenken. Jeder zweite Teilnehmende hat schon eine antisemitische Belästigung erlebt.

Und Sie persönlich?
Ich habe weniger ein Gefühl der Unsicherheit. Aber bezüglich meiner Kinder bin ich sensibler geworden. Wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin, möchte ich nicht, dass sie eine Kippa tragen, sondern eine Dächlikappe. Vor dem 7. Oktober hatte ich dieses Empfinden nicht.

Ihr Alltag hat sich demnach deutlich verändert.
Es ist leider ein Dauerzustand, dass jüdische Menschen belästigt oder beschimpft werden. Es gibt ruhigere Phasen, aber von der einen auf die andere Minute kann der Antisemitismus wieder vorhanden sein. Der 7. Oktober war ein solcher Triggerpunkt, der viele Ressentiments ausgelöst hat. Wenn etwas in Israel passiert, dann überträgt man dies automatisch auf Jüdinnen und Juden in der Schweiz und schreibt ihnen eine Verantwortung zu, die sie nicht haben.

Sie kritisieren im Antisemitismusbericht 2024 denn auch, dass Sie sich als Jude in der Schweiz ständig für Entscheidungen Israels rechtfertigen müssen.
Das ist doch auch eine einzigartige Sache. Wir werden auch als Haupttriebkraft eines Kriegs dargestellt. Aber wir sind in diesen Krieg gar nicht direkt involviert. Ich bin auch ungarischer Staatsbürger, aber niemand spricht mich auf Entscheidungen von Viktor Orban an.

Historiker und Armeeseelsorger

Zsolt Balkanyi-Guery ist 1975 in Budapest geboren und kam mit sechs Jahren in die Schweiz. Er studierte Geschichte und Theologie, unterrichtete sowohl an der Universität als auch an Kantonsschulen. Er gehörte zu den ersten jüdischen Armeeseelsorgern, ist Familienvater und Rektor der Jüdischen Schule Noam in Zürich. Seit 2024 ist er Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.

Zsolt Balkanyi-Guery ist 1975 in Budapest geboren und kam mit sechs Jahren in die Schweiz. Er studierte Geschichte und Theologie, unterrichtete sowohl an der Universität als auch an Kantonsschulen. Er gehörte zu den ersten jüdischen Armeeseelsorgern, ist Familienvater und Rektor der Jüdischen Schule Noam in Zürich. Seit 2024 ist er Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus.

Wie spannungsgeladen ist die Diskussion zu Israel und Gaza innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz?
Es gibt verschiedene Meinungen, die kontrovers diskutiert werden. Aber wenn man Verwandte in Israel hat, die Geiseln kennen, oder wenn man selbst Leute kennt, die umgekommen sind, ist die Haltung eine andere, als wenn man ohne Betroffenheit aus der Schweiz urteilt. Zudem ...

Bitte.
Ich verstehe nicht, wie jemand als queere Person oder als Frau hier in der Schweiz für die Hamas demonstrieren und das menschenverachtende System bedingungslos in Schutz nehmen kann. Es ist ein Ort, wo es keinen Platz für queere Leute gibt. Es ist eine Organisation, die Frauenrechte mit Händen und Füssen tritt und sexualisierte Gewalt eingesetzt hat, auch gegen die Geiseln. Auf der anderen Seite haben wir mit Israel eine Demokratie, die Frauen genau gleich akzeptiert wie jedes europäische Land.

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Sie sagten einmal, der helvetische Antisemitismus sei nie gewalttätig, sondern eher diskret. Würden Sie das trotz verhärteter Diskussionen immer noch sagen?
Ja. Der helvetische Antisemitismus hat sich der diskreten Schweizer Art, zu kommunizieren, angepasst. Er ist leiser, kann aber genauso zerstörend und verletzend sein wie seine grossen Brüder. Es gibt keine glatzköpfigen Typen, die Bomberjacke und Baseballschläger tragen. Aber man schaut vielleicht, dass jüdische Leute eine Immobilie in der Nachbarschaft nicht kaufen können.

Hohe Zahlen vermerken Sie auch bei antisemitischen Äusserungen online, beispielsweise in den sozialen Medien. Sie fordern deshalb nun eine Regulierung durch den Staat.
Genau. Von den sozialen Medien geht eine Gefahr punkto Fehlinformationen aus. Es gibt Menschen, die glauben, dass der Tod von sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg nicht stattgefunden hat. Wir erleben jetzt erstmals eine Generation, die vor allem über die sozialen Medien politisiert wird. Ich glaube, dass man sich als Gesellschaft und als Politik damit auseinandersetzen muss und eine Regulierung unabdingbar ist.

Der Trend ist gegenläufig. Gerade in den USA wurde die Regulierung seit dem Amtsantritt von Donald Trump lascher, nach dem Prinzip: Meinungsfreiheit geht vor.
Wir wissen, dass die sozialen Netzwerke zu einer Radikalisierung führen können. Eine Radikalisierung, die in offener Gewalt münden kann. Dies geht bis hin zu Anschlägen, wie wir ihn in Zürich-Selnau gesehen haben. Da kann man nicht die Augen verschliessen und sagen, es gehe um Meinungsfreiheit. Es geht um Gewalt.

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