Auf einen Blick
Auf dem Campus der Universität Freiburg kennt Joseph Deiss (78) jede Ecke. Hier war der alt Bundesrat nicht nur ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik, sondern später auch Dekan. Eben ist sein neues Buch «Ruptures» – zu Deutsch «Brüche» – erschienen. Seine Enkelin Clémence, die internationale Beziehungen studiert, habe ihn angerufen, weil ihr das Buch gefalle. «Das freute mich sehr», sagt der Mitte-Politiker.
Herr Deiss, Ihr neues Buch ist ein flammendes Plädoyer für den Frieden. Was war der Auslöser?
Joseph Deiss: Mit Schreiben begonnen habe ich an Weihnachten 2023. Am 25. Dezember stand ich wie immer frühmorgens um fünf Uhr auf und schaute Teletext. Dort erwartete ich höchstens einen brennenden Weihnachtsbaum in den News, fand dann aber 14 Meldungen zu Krieg! Viele Leute fühlen sich verloren und fragen sich: Was kann ich tun? Mir geht es gleich. Ich bin nicht mehr im Bundesrat, kann politisch direkt nichts bewegen. Die Umweltschützer kleben sich am Boden fest, um etwas zu erreichen – ich greife zur Feder.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Sie haben die Schweiz in die Uno geführt, waren deren Präsident. Nun hat der Nationalrat beschlossen, die Gelder für das Uno-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (UNRWA) zu streichen. Was sagen Sie dazu?
Der Menschenrechtsrat befindet sich in der Schweiz. Wir sollten Missionare der Menschenrechte sein. Doch die Rechten kritisieren lieber die Uno oder die UNRWA, anstatt diese Institutionen zu unterstützen, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Der Grund für die Streichung war der Verdacht, dass unter den Mitgliedern des Hilfswerks Terroristen sind. Die Uno hat unter der Führung der ehemaligen französischen Aussenministerin Catherine Colonna einen Bericht zur UNRWA verfasst. Dieser hat keine Beweise für Terrorismus gefunden. Dafür haben die Verfasser 50 Massnahmen vorgeschlagen, damit die Neutralität des Hilfswerks besser gewährleistet werden kann. Das interessiert die in Bern aber nicht – lieber hören sie auf Israel, das den Verdacht streute.
Ganz ausschliessen kann man aber nicht, dass die UNRWA-Gelder noch anders eingesetzt werden.
Nein. Aber was mich stört, ist, dass da ja nur ein Verdacht ist. In der Justiz gilt: im Zweifel für den Angeklagten. Das Parlament sagt hingegen: Im Zweifel streichen wir das Geld. Das sind die gleichen Leute, die sich mit dem Roten Kreuz brüsten. Wie kann man sich als Mensch bezeichnen, wenn man das Leid der palästinensischen Zivilisten und der Israelis, die massakriert oder als Geiseln genommen wurden, toleriert? Wenn es nur ein Kind zu retten gibt – egal ob in Israel oder Palästina –, dann müssen wir das tun! Was mich auch ärgert: Beim Palästinenserhilfswerk spielt die SVP den Moralapostel. Und just die gleichen Vertreter jubelten letzte Woche an einem Anlass der «Weltwoche» in Zürich dem deutschen Altkanzler Gerhard Schröder zu. Einem Politiker, der offensichtlich mit einem gesuchten Kriegsverbrecher – Wladimir Putin – verbandelt ist.
Der Nationalrat schlägt vor, die Schweiz solle statt des UNO-Hilfswerks andere Organisationen im Gazastreifen unterstützen. Wie zum Beispiel das IKRK.
Am vergangenen Freitag beantwortete der neue Direktor des IKRK, Pierre Krähenbühl, im Westschweizer TV die Frage klar: Das IKRK als Ersatz für das Palästinenserhilfswerk ist unmöglich! Die UNRWA, das sind mehrere Tausend Mitarbeitende, die 700'000 Flüchtlinge betreuen. Und zwar über eine lange Zeit. Die Palästinenser haben Kinder, die zur Schule müssen, Schwangere, die Kinder gebären, und so weiter. So eine Unterstützung kann man nicht aus dem Ärmel improvisieren. Man muss die Sprache sprechen, das Land kennen. Die Parlamentarier interessiert das nicht, sie diskreditieren lieber ein Hilfswerk unter Schweizer Leitung.
Ich spüre, Sie sind geladen.
Ja, das trifft mich. Ich möchte am Morgen vor den Spiegel stehen und sagen: Die Ehre der Schweiz ist gewahrt. Wenn ich aber diese Entwicklungen beobachte, ist das unserer Ehre nicht mehr würdig. Ich adressiere mich nicht nur an die Schweiz, sondern an alle Verantwortlichen der Weltgemeinschaft. Hört endlich auf! 20 Millionen Tote im Ersten Weltkrieg, 80 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg. Haben wir nicht genug Referenzen, um zu wissen, dass es ein verdammter Blödsinn ist, was gerade abläuft? Wir hätten alles, um glücklich zu sein – warum zerstören wir das?
Sie kritisieren die SVP. Allerdings waren auch die FDP und Ihre eigene Partei, die Mitte, gespalten. Die Hälfte der Mitte-Fraktion hat die Streichung befürwortet.
Es schockiert mich natürlich, dass meine eigene Partei da mitgemacht hat. Darum sage ich: Wir alle müssen Verantwortung übernehmen. Es wäre endlich an der Zeit, dass die Schweiz, welche die Genfer Konventionen initiiert hat, eine Vertragsparteienkonferenz zwischen Israel und Palästina einberuft. Am Rednerpult ist es schwieriger hinzustehen und zu sagen: Ja, wir haben die Verträge unterschrieben, aber wir halten uns nicht daran.
Letzte Woche hat die UNO genau dies gemacht – und die Schweiz beauftragt, eine Nahostkonferenz durchzuführen. Ja, mit 124 Ja-Stimmen zu 30 Enthaltungen. Und ausgerechnet die Schweiz hat sich enthalten! Wie erklären Sie sich das?
Womöglich wollte die Schweiz sich ihre neutrale Haltung wahren. Ich finde das falsch. Ich hätte erwartet, dass die Schweiz nicht nur zustimmt, sondern auch ans Pult geht und sagt: Wir organisieren das! Die Schweiz braucht mehr Rückgrat.
Nimmt Ignazio Cassis als Aussenminister seine Führungsrolle nicht wahr? Bei seiner Reise nach Jordanien 2018 sagte er noch, die UNRWA sei Teil des Problems. Da kann er im Parlament natürlich schlecht gegen eine Streichung der Gelder kämpfen.
Mit der Aussage von damals hat er sich natürlich etwas den Boden unter den Füssen weggezogen. Aber ich möchte mich nicht über amtierende Bundesräte äussern. Nur so viel: Den Friedensgipfel auf dem Bürgenstock habe ich sehr unterstützt. Endlich wurde über Frieden debattiert.
Bundespräsidentin Viola Amherd sprach letzte Woche in New York am Zukunftsgipfel der Uno. Sie sagte, der dort beschlossene Zukunftspakt sei ein Weckruf für die Uno. Ist diese ein Auslaufmodell?
Im Gegenteil. Wenn die Uno nicht agieren kann, ist das, weil die Mitgliedstaaten ihre Versprechen nicht einhalten. Etwa Russland, das die Ukraine angreift. Aber es braucht Reformen beim Sicherheitsrat sowie Anpassungen des internationalen Finanzsystems zugunsten der ärmeren Länder. Als Mitglied des Rats der UNO-Präsidenten habe ich den Pakt auch unterstützt. Sonst bin ich aber in keiner Organisation mehr aktiv.
Was kann jeder Einzelne tun?
Wenn wir alle – auch die Medien – nicht nur über Krieg, Waffen und Sanktionen sprechen, sondern mehr das Wort Frieden benutzen, können wir damit etwas verändern. Der ehemalige britische Premier Winston Churchill war zwar eine Kriegsgurgel – und als Minister gar an der Front. Aber es war auch Churchill, der 1941 zusammen mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Atlantikpakt verabschiedete, der klar definierte: Wir wollen Frieden. Und wie dieser Frieden aussehen sollte. Apropos Krieg. Die Armee soll vier Milliarden Franken mehr erhalten.
Zu Recht?
Es ist richtig, dass man in diese Richtung erwacht. Wir müssen die Neutralität der heutigen Situation anpassen. Dazu gehört auch, sich Gedanken zu machen, wie wir uns verteidigen können. Heute wird der Krieg mit Drohnen geführt, und wir kommen überspitzt gesagt mit der Armbrust daher. Wir können uns alleine nicht verteidigen – darum bin ich für Zusammenarbeit mit Partnern. Das Geld für die Armee soll ausgerechnet auf Kosten der Entwicklungshilfe gehen. Covid hat gezeigt, wie solide unser Kassenschrank ist: In wenigen Tagen hat der Bundesrat Milliarden von Franken für die Unterstützung der Wirtschaft organisiert. Und jetzt wird wieder geschmürzelt. Gerade wenn es um Flüchtlinge geht. Dabei können wir uns beides leisten! Reine Sparüberlegungen sind falsch. Klar ist aber: Die billigste Lösung ist Frieden.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über den Klimawandel. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im April die Schweiz verurteilt: Sie unternehme zu wenig, um ältere Frauen gegen den Klimawandel zu schützen. Der Bundesrat sagte Ende August, er sehe keinen Handlungsbedarf. Hat er Recht?
Im Gegenteil, ich sehe enormen Handlungsbedarf. Ich bin für 100 Prozent CO2-Freiheit! Der Planet braucht die Menschen nicht, aber die Menschen brauchen den Planeten. Doch man hat ja bei der Biodiversitätsinitiative gesehen, was die vorherrschende Meinung ist.
Das Urteil des EGMR scheint für unsere Behörden nicht bindend zu sein.
Fritz Traugott Wahlen, Politiker bei der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, heute SVP, hat die Schweiz 1962 in den Europarat gebracht. Dieser entschied, ein Gericht aufzustellen, das weiter gehen kann als die Uno-Charta für Menschenrechte. Von 1998 bis 2007 war mit Luzius Wildhaber ein Schweizer Präsident des Gerichts, auch heute hat ein Schweizer Richter Einsitz. Nach dem Urteil zugunsten der Klima-Seniorinnen schimpfte die SVP gegen fremde Richter und verlangte gar, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen! Glücklicherweise hat der Nationalrat das verhindert. Wir sollten gegenüber allen unseren Institutionen ehrfürchtig und treu sein.
Ihr Buch zeichnet ein düsteres Bild. Sie schreiben, wir seien vom Licht in die Dunkelheit unterwegs. Warum engagieren Sie sich überhaupt noch?
Ich finde nicht, dass es ein pessimistisches Buch ist. Ich sage klar, dass wir die Mittel haben, um die Brüche zu kitten. Mit dem Uno-Zukunftspakt haben wir ein Konzept, um die Welt des 21. Jahrhunderts zu organisieren. Mein Buch unterstützt dieses. Es soll aufrütteln. Ich will aufrütteln.