Blick: Frau Widmer-Schlumpf, das Interesse der Seniorinnen und Senioren am Booster ist gross. Haben Sie auch schon einen Termin für die dritte Dosis?
Eveline Widmer-Schlumpf: Ja, ich habe bereits einen Termin für die Booster-Impfung. Pro Senectute empfiehlt die Booster-Impfung allen besonders gefährdeten Personen unabhängig von ihrem Alter. Bei Unsicherheiten raten wir zur Konsultation einer medizinischen Fachperson.
Die Corona-Ansteckungen nehmen wieder zu. Fürchten Sie sich vor dem Winter?
Die Spitäler sind aktuell wieder stark belastet. Wenn die Fallzahlen weiter steigen, müssen wir aufpassen, dass es nicht erneut zu einer Überlastung kommt.
Der Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften wird tiefer. Wie nehmen Sie das politische Klima im Land wahr?
Wir sehen viele Bilder von Demonstrationen, an denen sich Gruppen kollektiv empören. Was wir leider weniger sehen, sind Bilder von Jungen und Alten, die wieder gemeinsam an Konzerte oder Hockeyspiele gehen. Letzte Woche war ich zusammen mit meinem Enkel im Kino – das hat mich riesig gefreut! Solche Dinge sind nur dank dem Covid-Zertifikat möglich. Das Einigende wird oft übersehen.
Eveline Widmer-Schlumpf (65) gehörte während ihrer Zeit im Bundesrat zu den beliebtesten Magistraten. Gleichzeitig war die Juristin ein rotes Tuch für die SVP, weil sie die Abwahl von Christoph Blocher (80) ermöglicht hatte. Tabubrecherin war sie schon zuvor: 1998 wurde sie erste Frau im Bündner Regierungsrat. Seit 2017 ist sie Präsidentin von Pro Senectute und engagiert sich für Seniorinnen und Senioren.
Eveline Widmer-Schlumpf (65) gehörte während ihrer Zeit im Bundesrat zu den beliebtesten Magistraten. Gleichzeitig war die Juristin ein rotes Tuch für die SVP, weil sie die Abwahl von Christoph Blocher (80) ermöglicht hatte. Tabubrecherin war sie schon zuvor: 1998 wurde sie erste Frau im Bündner Regierungsrat. Seit 2017 ist sie Präsidentin von Pro Senectute und engagiert sich für Seniorinnen und Senioren.
Pro Senectute hat diese Woche entschieden, sich aktiv für das Covid-Gesetz zu engagieren, das die Grundlage fürs Zertifikat bildet. Kommt das Engagement nicht viel zu spät?
Der Abstimmungskampf läuft noch, und jede Stimme zählt. Den Weg des Bundesrats haben wir mit wenigen Ausnahmen mitgetragen: Wir waren eine den ersten Organisationen, die sich für eine Einführung einer Maskenpflicht im öffentlichen Raum eingesetzt hat. Wir haben unmittelbar nach der Zulassung der Schutzimpfung alle aktiv dazu aufgerufen, sich impfen zu lassen. Und wir stehen klar hinter dem Contact-Tracing und dem Covid-Zertifikat.
Wäre ein Nein zum Gesetz denn so tragisch? Der Bund würde doch bestimmt wieder eine Zertifikatslösung etwa für Auslandsreisen finden.
Das sehen wir anders. Natürlich geht es immer irgendwie weiter, die Frage ist: zu welchem Preis? Bei einem Nein zum Covid-Gesetz kann sich der Bund nur noch auf die Massnahmen im Epidemiengesetz stützen. Das könnte bedeuten: Je nach epidemiologischer Lage würden wieder Veranstaltungen verboten, die soziale Interaktion mit Maximalteilnehmerzahlen beschränkt oder Läden geschlossen. Das Zertifikat trägt dazu bei, dies zu verhindern.
Manche befürchten, dass der Bundesrat mit einer Verschärfung der Massnahmen zuwartet, bis die Abstimmung vorbei ist. Halten Sie das als alt Bundesrätin für wahrscheinlich?
Die Strategie des Bundesrats hat sich bis heute alles in allem bewährt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Bundesrat die Massnahmen verschärfen muss, ist deutlich kleiner, wenn wir am Zertifikat festhalten. Das Zertifikat ist im übrigen auch für den Wintertourismus wichtig.
In Umfragen befürworten rund 60 Prozent das Covid-Gesetz. Bei den Älteren ist die Unterstützung noch grösser. Wie erklären Sie sich das?
Die Älteren sind sich bewusst, was es bedeuten könnte, wenn sie an Corona erkranken. Ausserdem sind die Massnahmen der ersten Monate noch in Erinnerung: Die sozialen Kontakte nicht mehr pflegen zu können, war für einen grossen Teil der Seniorinnen und Senioren sehr einschneidend. Ich glaube aber auch, dass sich die Älteren eher auf wissenschaftliche Daten verlassen und im Allgemeinen auch Vertrauen in die auf Bundes- und Kantonsebene verantwortlichen Personen haben.
Ganz anders die Corona-Skeptiker. Sie trauen der Wissenschaft nicht und warnen bereits vor Manipulationen am Abstimmungssonntag.
Das ist für mich reine Stimmungsmache. Unsere direkte Demokratie funktioniert gut. Die Abstimmungsresultate kommen korrekt zustande und sind verlässlich. Das sind einige wenige, die sich hier sehr laut zu Wort melden. Mich erinnert das an die Situation in den USA nach den letzten Wahlen.
Nebst dem Covid-Gesetz kommt am 28. November auch die Pflege-Initiative an die Urne. Haben Sie schon abgestimmt?
Ja, das mache ich immer sofort, wenn ich die Unterlagen erhalte.
Und wie?
Wir von Pro Senectute unterstützen die Pflege-Initiative, weil sie ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist. Allerdings bleibt aus unserer Sicht ein entscheidender Punkt ungelöst: die Finanzierung der Betreuung zu Hause.
Was meinen Sie damit?
Die Pflege im Heim wird heute durch die Krankenversicherung und die öffentliche Hand mitfinanziert. Die Pflege durch die Spitex zu Hause übernimmt die Krankenversicherung. Hauswirtschaftliche Kosten und Kosten der Sozialbetreuung werden von der obligatorischen Krankenversicherung nicht übernommen; diese müssen Seniorinnen und Senioren privat finanzieren. Das bedeutet, dass sich nicht alle eine gute Betreuung zu Hause leisten können. Das kann nicht sein.
Die Umsetzung der Pflege-Initiative dürfte bereits sehr viel Geld kosten. Und nun verlangen Sie noch mehr?
Schauen Sie, heute werden Seniorinnen und Senioren, die mehr als eine Stunde Spitex-Pflege pro Tag benötigen, zum Teil dazu angehalten, ins Heim zu gehen, weil dies für die Krankenversicherung günstiger ist. Das geht nicht an. Mit der Finanzierung der Betreuung zu Hause könnten wir Heim- und Spitaleintritte reduzieren und so wiederum Kosten sparen.
Mit dem indirekten Gegenvorschlag zur Pflege-Initiative wollen Bundesrat und Parlament fast eine Milliarde Franken in die Ausbildung von Pflegenden investieren. Das ist sehr viel Geld, das Sie ausschlagen.
Sowohl die Pflege-Initiative wie auch der indirekte Gegenvorschlag zielen auf eine Verbesserung der Personalsituation ab. Der Gegenvorschlag konzentriert sich dabei auf die Ausbildung, wobei die Auslösung der entsprechenden finanziellen Mittel des Bundes von der Mitwirkung der Kantone abhängt. Die Initiative setzt breiter an und sieht neben der Ausbildung weitere Massnahmen vor zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Abgeltung der Pflegeleistungen und der beruflichen Entwicklung.
Der Heimverband Curaviva und Spitex Schweiz unterstützen dennoch den Gegenvorschlag, weil dieser bereits auf dem Tisch liegt und rascher umgesetzt werden könnte.
Wie rasch der Gegenvorschlag umgesetzt würde, ist offen. Alle Kantone müssten noch ihren Teil der Finanzierung sicherstellen. Bei einer Annahme der Initiative ist das Parlament gefordert, diese im Sinne der Initiantinnen und Initianten rasch umzusetzen.
Glauben Sie wirklich, dass die Umsetzung der Pflege-Initiative nach der Pandemie weitergehen würde als der aktuelle Gegenvorschlag?
Die Pflege wird uns auch nach der Pandemie beschäftigen. Wir gehen davon aus, dass deren Bedeutung weiter zunehmen wird. Nicht zuletzt auch darum, weil die Gruppe der Menschen im Pensionsalter immer grösser wird. Allein schon deshalb wird der Bedarf an Betreuungs- und Pflegeleistungen steigen. Der politische Druck, hier Lösungen umzusetzen, wird nicht nachlassen.