Alles nur «Gender-Gaga»?
«Auch die Männer profitieren von der Gleichstellung»

Frauen können forschen und Jungs stricken: Erika Schläppi wehrt sich gegen überkommene Geschlechter-Rollen. Jetzt wurde die Bernerin zum Mitglied im Uno-Ausschuss gegen Frauendiskriminierung gewählt.
Publiziert: 29.07.2024 um 10:27 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2024 um 11:01 Uhr
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Erika Schläppi, Mitglied im Uno-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, im Gespräch mit Redaktor Raphael Rauch.
Foto: Thomas Meier
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Erika Schläppi (64) hat den Feminismus mit der Muttermilch aufgesogen: Margrit Schläppi-Brawand (99) war die erste Parlamentspräsidentin des Kantons Bern. Im Juni wurde ihre Tochter von den Mitgliedsstaaten des Uno-Übereinkommens in den Ausschuss gegen Frauendiskriminierung (Committee on the Elimination of Discrimination against Women, Cedaw) gewählt. Das Gremium tagt in Genf und beobachtet den Fortschritt in Sachen Geschlechtergleichstellung mit Argusaugen. Die Juristin Erika Schläppi hat ein malerisch gelegenes Büro in Bern – direkt an der Aare. Zum ersten Mal seit ihrer Wahl gibt sie ein Interview.

Frau Schläppi, sind Sie die oberste Frauenbeauftragte der Schweiz?
Erika Schläppi: Nein (lacht). Ich bin von 2025 bis 2028 unabhängige Expertin und eines von 23 Mitgliedern des Ausschusses gegen Frauendiskriminierung. Ich werde mich nicht zur Schweiz äussern, aber zu allen anderen Ländern, die dem Uno-Übereinkommen angehören.

Also vom Talibanstaat Afghanistan bis zum fortschrittlichen Skandinavien?
Genau! Wir prüfen, ob sich die 189 Vertragsstaaten an ihre Verpflichtung halten, Diskriminierung abzubauen und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern.

Die Uno hat 193 Mitglieder. Welche Nationen machen nicht mit?
Die USA, weil sie sich ungern einer externen Kontrolle unterziehen. Hinzu kommen Länder wie Iran, Sudan und Somalia.

Noch ein Vergleich: Sind Sie die Carla Del Ponte für Gender-Fragen?
Schön wäre es, wenn ich wie Carla Del Ponte jene Länder anklagen könnte, die Frauen diskriminieren. Das Mandat des Cedaw-Ausschusses hat klare Grenzen: Wir beobachten, beurteilen, analysieren – und sind darauf angewiesen, dass uns die betroffenen Länder zuhören, dass sie unsere Empfehlungen ernst nehmen.

Wie bringen Sie ein afrikanisches Land dazu, mehr gegen weibliche Genitalverstümmelung zu tun?
Unser Ausschuss hat den Auftrag, kritisch und konstruktiv zu sein. Wir äussern uns diplomatisch, aber bestimmt. Dennoch sind wir keine Polizei, wir können niemanden zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Wir setzen auf Dialog und hoffen darauf, dass Staaten aktiv werden, wenn sie unter öffentlichem Druck stehen. Wir stärken damit auch die Stimmen jener, die sich in den betreffenden Ländern gegen die Genitalverstümmelung einsetzen.

Die Uno gilt als zahnloser Tiger. Was bringen Ihre Papiere, wenn Sie am Ende auf Freiwilligkeit setzen müssen?
Die Staaten gestehen der Uno eben nur eine beschränkte Rolle zu. Fakten zusammenzutragen und Öffentlichkeit zu schaffen, ist aber ein starkes Mittel, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Unsere Berichte können später auch von anderen Gremien oder Gerichten, von der Zivilgesellschaft oder von anderen Staaten im bilateralen Dialog genutzt werden. Die Regierungen müssen öffentlich Stellung nehmen und können sich nicht einfach in ihren Büros verschanzen.

Welche Frauen sind am meisten von Diskriminierung betroffen?
Besonders verletzlich sind Frauen in Kriegen und bewaffneten Konflikten. Alleinerziehende Mütter, Migrantinnen, ältere Frauen, junge Mädchen, Angehörige von benachteiligten Minderheiten haben es ebenfalls besonders schwer.

Sie wurden für vier Jahre gewählt. Ist der Cedaw-Ausschuss ein reines Frauen-Gremium?
Nein, wir haben einen Quoten-Mann aus Aserbaidschan (lacht).

Wann ist eine Frau eine Frau? Manche sprechen neuerdings von Menschen, die menstruieren …
Im Cedaw-Ausschuss geht es um das Uno-Übereinkommen. Es fokussiert auf Frauen, das ist ein traditionell feministischer Ansatz. Ich persönlich respektiere fluide Gender-Konzepte, aber wir können nicht ignorieren, dass sich die meisten Menschen als Frau oder Mann definieren. In gewisser Weise ist der Uno-Text, auf den wir uns berufen, aber sehr fortschrittlich.

Inwiefern?
Der Text hält fest: Wir müssen die Geschlechter-Stereotypen angehen, also die fixen gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen, was weiblich oder männlich ist, was eine Frau zu tun oder zu lassen hat. Das ist sehr modern: Ja, es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber sie sind nur sehr beschränkt naturgegeben. Frauen können Naturwissenschaftlerinnen werden. Und meine Söhne können stricken.

Stricken Ihre Söhne?
Einer meiner Söhne wollte in der Schule stricken, bis ein Lehrer zu ihm sagte: Du bist doch ein Junge, die anderen Jungs sind im Werkunterricht!

Haben Sie Ihre Söhne feministisch erzogen?
Mein Mann und ich haben Wert darauf gelegt, dass sie sich frei entfalten können – möglichst ohne Gender-Stereotype.

Was ist schlimmer: toxische Männlichkeit oder mangelnde Frauensolidarität?
Beides! Aber warum eigentlich sollten Frauen immer einer Meinung sein? Nur weil sie die gleichen männerdominierten Strukturen erleben, heisst das nicht, dass Frauen von links bis rechts einer Meinung sein müssen.

Viele Feministinnen sprechen von gesellschaftlichen Rückschritten, einem Backlash. In Teilen der USA wird das Recht auf Abtreibung wieder abgeschafft.
Wir leben in unsicheren Zeiten. Verlustängste wirken sich auf Geschlechterverhältnisse aus, und reproduktive Rechte geraten oft in den Fokus – zulasten der betroffenen Frauen. In unsicheren Zeiten wird der Ruf nach Tradition und starken Männern lauter.

Haben Sie selbst Sexismus erlebt?
Natürlich – welche Frau hat das nicht? Von Frauen wird zum Beispiel immer noch vielerorts erwartet, dass sie im Büro hübsch aussehen, Kaffee kochen und den Kühlschrank putzen. Wenn das Opfer einer Vergewaltigung ein bauchfreies Top getragen hat, heisst es oft: «Also ein bisschen selber schuld ist die schon …» Das muss aufhören!

Was empört Sie besonders am Sexismus in der Schweiz?
Da gibt es einige Baustellen, zum Beispiel die Pensionskassen. Gerade Frauen, die sich scheiden lassen, merken: Sie haben viel zu spät an die Pensionskasse gedacht. Eine Pensionskasse geht von einem Lebensmodell aus, das Frauen oft nicht entspricht: Ein Mann fängt an zu arbeiten, macht Karriere und verdient immer mehr, mit 65 Jahren hört er auf. Was ist mit den Frauen, die sich während Jahren um Kinder kümmern, weniger arbeiten und später auf einem tieferen Niveau wieder einsteigen? Frauen haben deutlich tiefere Renten als Männer. Nicht, weil sie ein Leben lang auf der faulen Haut lagen, sondern weil unser System sie strukturell benachteiligt.

Was sehen Sie sonst noch an Problemen?
Wir könnten auch über die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen sprechen oder über die ungleichen Löhne oder darüber, dass Frauen mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten. Männer machen Karriere, Frauen halten die Gesellschaft und die Familie zusammen. Das ist leider so und wird viel zu wenig honoriert. Aber im Cedaw-Ausschuss geht es nicht um meine persönliche Empörung, sondern um die Verpflichtungen der Staaten, die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen.

Stehen Sie für das, was die SVP als «Gender-Gaga» verspottet?
Viele Leute vergessen: Selbst wenn auf dem Papier Gleichberechtigung herrscht, werden Frauen in der Schweiz faktisch immer noch benachteiligt. Es geht hier weder um Gleichmacherei noch Gender-Ideologie, sondern um gleiche Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen und Männer.

Manche meinen: «Jetzt ist mal Schluss mit der Frauenförderung, jetzt sind wir Männer dran!»
Ich verstehe, dass manche Männer sich beklagen, heute für die Benachteiligung von Frauen in der Vergangenheit zahlen zu müssen. Trotzdem bin ich überzeugt: Die Gleichstellung der Geschlechter macht unsere Gesellschaft besser. Auch die Männer profitieren vom Feminismus. Sie haben heute zum Beispiel mehr Wahlmöglichkeiten, welche Rolle sie in der Familie übernehmen möchten.

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