Wenn Kinder weinen, will man helfen. Thurgauer Kinderärzte dürfen das in vielen Fällen nicht: 856 Kinder stehen auf der Schwarzen Liste, weil die Eltern die Krankenkassenprämien nicht bezahlt haben.
«Ein furchtbares Dilemma», klagt Stefan Schneider (49), Kinderarzt in Kreuzlingen TG. «Wir sind ein Kleinunternehmen und müssen Löhne bezahlen. Gleichzeitig wollen wir natürlich auch den Kindern helfen.»
Notfall anders definiert
Schneider ist einer der wenigen Ärzte, die sich öffentlich zum Thema äussern. Denn es trifft die Ärzte dort, wo es am meisten schmerzt: Handeln sie strikt nach dem Gesetz, leiden Kinder. Und das sind viele: Auf der Schwarze Liste im Kanton Thurgau standen am Stichtag im Mai ingesamt 5787 Namen – jeder siebte war derjenige eines Kindes.
«Wenn man mit den Eltern direkt spricht, versprechen sie, sich sofort um die offenen Rechnungen zu kümmern. Leider passiert dann oft nichts», sagt Schneider. Für den Arzt eine schwierige Situation. Er muss hart bleiben. Bei seinen Kollegen gebe es unterschiedliche Haltungen. «Manche verweigern die Behandlung konsequent, andere zeigen sich nachsichtiger und helfen – ohne Rücksicht auf die Liste.» Er selbst versucht, einen Mittelweg zu finden.
«Ein Armutszeugnis»
«Es ist ein Armutszeugnis, wenn unschuldigen Kindern medizinische Leistungen verweigert werden», empört sich die Thurgauer SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher (55). In der Fragestunde von heute Montag will sie vom Bundesrat wissen, ob der Kanton Thurgau damit gegen die Kinderrechtskonvention verstösst.
Der Thurgauer Regierungsrat verneint das: Die Kinderrechtskonvention garantiere die gesundheitliche Grundversorgung, so SVP-Finanzdirektor Jakob Stark (61). Die sei auch in seinem Kanton gegeben. Denn im Notfall dürften alle zum Arzt.
Auf einer Liste zu sein, könne den Kindern auch helfen, findet er. Denn die Gemeinden müssten jeden Einzelfall betreuen. Mit allen, die die Prämien nicht bezahlen, werde Kontakt aufgenommen und eine Lösung gesucht. Sind Kinder auf der Liste, würden die Gemeinden gar früher informiert und könnten so auch schneller helfen, sagt Stark. Und: «In begründeten Fällen kann auch die Gemeinde die Kosten übernehmen.»
Zwei Drittel hätten genügend Geld
Für Stark ist aber wichtig, die Opferrolle der säumigen Zahler zu hinterfragen. «Zwei Drittel aller Leute auf der Liste haben keinen Anspruch auf Prämienverbilligungen. Es ist also genug Geld da, um die Prämien zu bezahlen.»
Für Mirco Bassetto (53) greift dieses Argument nicht. Er leitet die Sozialen Dienste der Stadt Kreuzlingen und trifft häufig auf Familien, die auf der Schwarzen Liste stehen. «Bevor jemand auf die Liste gesetzt wird, kommen die Betreibungsbeamten. Wenn Geld vorhanden wäre, würden die es holen.»
Solothurn schafft Liste ganz ab
Andere Kantone haben die Schwarze Liste bereits ganz abgeschafft, zuletzt der Kanton Solothurn. Einer der Gründe: Die Liste habe ihre Wirkung verfehlt. Im Kanton Thurgau ist das kein Thema. «Wenn Leute ihre Prämien nicht bezahlen, obwohl sie das Geld dazu hätten, untergräbt das die Solidarität. Warum sollte ich die Prämien bezahlen, wenn mein Nachbar die Leistung auch so erhält?», fragt Stark.
Kinderarzt Schneider sieht das anders: «Die Schwarze Liste ist keine optimale Lösung – ausser die Betreuung durch die Gemeinden wird besser. Und wenn das Kindeswohl gefährdet ist, muss vielleicht die Kesb eingreifen. Nicht um zu bestrafen, sondern um zu helfen.»