Der Moléson ist in Sichtweite, Hühner gackern im Garten, ein grosser Hund bewacht das Haus, Motorengeräusche ziehen sich den Jaunpass hoch. In dieser beschaulichen Umgebung wohnt Gjon's Tears (22). In Broc FR, nur wenige Meter neben der Fabrik von Schokoladenhersteller Cailler. Es ist ein ruhiges Plätzchen – und steht in grossem Kontrast zu dem, was der Sänger vor einer Woche in Rotterdam (Niederlande) erlebte: Mit seiner Ballade «Tout l'univers» landete Gjon's Tears auf dem sensationellen dritten Platz am Eurovision Song Contest (ESC) und holte damit das beste Schweizer Resultat seit 1993. Vor 180 Millionen TV-Zuschauern sang er sich in die Herzen von toute l'Europe.
«Ich brauche Zeit, das alles zu verarbeiten», sagt er beim Besuch von SonntagsBlick. Ganze acht Mal erhielt Gjon's Tears im Voting die legendären «12 points», am Schluss wurde er zum Sieger der Jury-Abstimmung gekürt. Zusätzlich erhielt er den Marcel-Bezençon-Preis in der Kategorie Komposition – einen Preis, der von den teilnehmenden Liedautoren in einem Voting vergeben wird.
Jetzt zieht er nach Paris
Seit dem Eurovision Song Contest hatte Gjon Muharremaj, wie Gjon's Tears bürgerlich heisst, keine ruhige Minute mehr. Er kümmert sich selber um Konzert- und Interviewanfragen, Fanbotschaften treffen im Minutentakt ein. Gjon wirkt müde, aber motiviert. «Dieser Trubel wird wohl noch ein paar Wochen andauern.» Ein Organisationstalent sei er nicht, trotzdem wolle er sich nicht über die viele Arbeit beschweren.
Denn nun gilt es für den ESC-Helden, an den erreichten Erfolg anzuknüpfen. Erster Schritt: ein Umzug nach Paris. Sein Plattenlabel Jo & Co hat dort seinen Sitz, darum will er in der französischen Hauptstadt an seinem Album arbeiten. «Ich werde die Schweizer Berge, meine Familie und Freunde vermissen», sagt er. Aber er müsse einfach ein neues Kapitel aufschlagen.
Sohn eines albanischen Vaters und einer kosovarischen Mutter
Gjon wohnt momentan noch bei seinen Eltern. «Mama und Papa freuen sich für mich», sagt er. «Aber sie sind auch etwas besorgt, ob ich es tatsächlich schaffe. Als Künstler kann es finanziell immer mal wieder schwierig werden.»
Wie es ist, mit wenig Geld auszukommen, wissen Papa Hysni (58) und Mutter Elda (46) genau. Er wanderte vor rund 40 Jahren aus Albanien in die Schweiz ein, sie 1992 aus dem Kosovo. «Mein Vater hatte nur 500 Franken, baute sich nach und nach ein Leben in seiner neuen Heimat auf. Mittlerweile ist er Hausbesitzer.»
Nach seinem Auftritt rief er Grossvater Hamit an
Hysni und Elda waren auch vor Ort, als ihr Sohn am ESC brillierte. Gjon's grösster Fan, Grossvater Hamit (77), schaute sich die Show von seinem Zuhause in Kanada an. «Er wäre sogar nach Europa geflogen. Wegen der Corona-Auflagen wurde ihm aber die Einreise verwehrt.» Nur wenige Sekunden nachdem Gjon die Bühne verlassen hatte, kontaktierte er seinen Opa per Videoanruf. «Ich sah, wie ihm vor lauter Freude die Tränen kamen.» Schon als Bub weckte Gjon bei seinem Grossvater mit seiner Musik grosse Emotionen. Daher auch sein Künstlername Gjon's Tears (deutsch: Gjons Tränen). «Meine Superkraft hat also auch am ESC gewirkt», sagt er und lächelt.
Dieser Tage ist der Musiker vor allem mit unzähligen Medienanfragen beschäftigt. Am Freitag flog er nach Albanien, um dort Interviews zu geben. Das Heimatland seines Vaters liegt Gjon am Herzen: «Die albanischen Landsleute haben mich von Anfang an unterstützt.» Für seinen Auftritt am ESC bekam er sowohl von der albanischen Jury als auch vom albanischen Publikum zwölf Punkte. Danach schoss sein Song direkt auf Platz eins der albanischen Hitparade.
Wohnung in Paris hat er noch nicht
Die Diskussion um die Doppeladler-Geste, die Gjon nach den erhaltenen Punkte von Albanien machte, nervt ihn. «Die Geste hat überhaupt nichts mit Serbien zu tun. Ich habe kein Problem mit Serbien», stellt er klar. «Ich hatte einfach nur Freude an den Punkten aus Albanien und wollte mich für das Voting bedanken.»
Nach dem Kurztrip nach Albanien steht für Gjon ein Fernsehauftritt in Spanien auf dem Programm. Anfang Juni zieht er nach Paris. Eine Wohnung habe er noch nicht, vorerst sei ein Airbnb gebucht. Statt des Molésons sieht er künftig den Eiffelturm, statt die Cailler-Fabrik das Centre Pompidou. Gjon freut sich: «Ich bin bereit für den nächsten Lebensabschnitt!»