Es gibt Gerüche, die sich irgendwann in der Kindheit im Nasenflügel eingenistet haben und im Verlauf der Jugend in unser Gedächtniszentrum im Gehirn gewandert sind. Wie ein Schulgebäude riecht, kann man nur schlecht beschreiben – betritt man aber eines, wie wir es mit Sängerin Anna Känzig (39) gemacht haben, fluten Erinnerungen von Briefen an den ersten Schulschatz oder Fussballspielen im Gang das innere Auge. Zum Kanzleischulhaus mitten im Zürcher Kreis 4 hat Känzig eine besondere Bindung – nicht nur, weil sie hier an der Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ) einmal in der Woche Gesang unterrichtet: «Von meiner Mutter weiss ich, dass wir die ersten zwei Jahre meines Lebens direkt gegenüber gewohnt und hier im Schulhaus jeweils Wäsche gewaschen haben. Daher ist es schon sehr heimelig.» Und tatsächlich mutet das Klassenzimmer mit der riesigen Wandtafel, auf der Aufgaben von der letzten Lektion prangen, plötzlich seltsam sympathisch an.
Dass ihre Schülerinnen wissen, wer die Person ist, die mit ihnen die Tonleitern durchdekliniert, ist Känzig nicht unangenehm – im Gegenteil: «Ich finde das total herzig! Aber es war schon auch ein bisschen ‹strub› – einmal wollte eine Schülerin einen Song von mir singen!» Die Zürcherin lacht so herzhaft, dass sogar der Flügel im Hintergrund vibriert. Sie wolle richtig verstanden werden: «Für mich sind das schon zwei total verschiedene Welten, das Klassenzimmer und die Bühne. Die Verschmelzung von beidem war irgendwie seltsam – aber auch total schön.» Aufregend würden die Stunden sowieso nur dann, «wenn sie etwas machen, was ihnen Spass bereitet.» Dazu gehören auch Tiktok-Songs. «In der folgenden Woche proben wir aber wieder einen Song, den ich vorschlage», lacht Känzig.
«Wahnsinnige Anerkennung»
Nach der Schule ist vor der Bühne, ist vor dem Studio, ist vor der Kinderbetreuung – und umgekehrt. Für Känzig geht es nach dem Gespräch «zurück in den Stollen». Und gestern Samstag gings nach St. Moritz GR, wo ihr im Rahmen des Festival da Jazz der renommierte Ambrosetti-Preis verliehen wurde, gestiftet vom bekannten Schweizer Jazzmusiker Franco Ambrosetti (82). Er schlägt mit 10'000 Franken zu Buche. «Es ist eine wahnsinnige Anerkennung für mein Schaffen», freut sich Känzig – und ergänzt: «Alles etwas crazy.»
Dem Jazz habe sie nach ihrer Ausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) eigentlich abgeschworen. 2011 folgte ihr erstes Album, in der sie ihre Liebe zum Folk zum Ausdruck brachte – daraufhin wurde ihre Musik poppiger, was vor allem den Labels und Produzenten missfiel: Känzig: «Man hat mir damals gesagt, ich müsse meinen Stil definieren. Das hat mich gestresst.» Mittlerweile ist der aufgezwungene Stil-Fluch zu ihrem künstlerischen Segen geworden. Känzig beweist, dass das musikalische Nischen-Denken veraltet ist. Wenn sie mischen will, dann mischt sie – auch familiär. In St. Moritz hat Känzig erneut mit ihrem Onkel Heiri (67) zusammengespannt – er ist ein weltbekannter Bassist und hat bei seiner Nichte das Jazz-Feuer neu entfacht.
«Zurück in den Stollen»
Ab kommender Woche geht es für die Zürcherin dann wieder zurück «in den Stollen», wo sie an «einer Melange aus Pop und Folk» arbeitet. Und dann ins Klassenzimmer, in dem sie ihren Schülerinnen genauso wie sich selbst erlaubt, das zu singen, was ihnen Freude bereitet. Dieses Modell sollte Schule machen.
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