Der gebürtige Schweizer Jonas Lüscher (45) zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. In seiner Jugend hatte er den ersten Fragebogen von Max Frisch (1911–1991) aus dessen «Tagebuch 1966–1971» als Poster über dem Bett hängen. Frischs legendäre Sammlung von elf Fragebogen zu existenziellen Themen wie Ehe, Humor oder Tod lädt dazu ein, über sich selbst nachzudenken und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Da Lüscher am Sonntag den mit 40'000 Franken dotierten Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich erhält, stellt Blick ihm ein paar Frisch-Fragen.
Können Sie ohne Hoffnung denken?
Jonas Lüscher: Nein, Hoffnungslosigkeit ist lähmend. Ohne Hoffnung fände ich weder die Kraft zum Denken noch zum Schreiben.
Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?
Ich hatte die Hoffnung, dass meine Generation in Europa ein Leben ohne Kriege führen könnte. Diese Hoffnung habe ich so nicht mehr.
Wie heisst der Politiker, dessen Tod Sie mit Hoffnung erfüllen könnte?
Die Antwort ist momentan offensichtlich. Aber aus Gesprächen mit russischen Freunden weiss ich, dass das, was nach Putin käme, nicht unbedingt besser wäre.
Kann Hass eine Hoffnung erzeugen?
Da gibt es ein Interview mit Max Frisch, in dem er sinngemäss sagt, dass der Hass der Unterdrückten, der Armen, der Geplagten notwendig ist, damit es zu revolutionären Bewegungen kommt. Die Französische Revolution hätte ohne Hass wahrscheinlich nicht stattgefunden. Man muss davon ausgehen, dass es einen gewissen Hass oder zumindest Wut braucht, um zu besseren Verhältnissen zu kommen.
Warum scheuen Revolutionäre den Humor?
Das tun sie nicht. «Das Lachen ist ein grosser Revolutionär» schrieb zumindest der russische Kunsttheoretiker Michail Bachtin.
Was ertragen Sie nur mit Humor?
Das Leben an sich.
Jonas Lüscher kommt 1976 in Schlieren ZH zur Welt, wächst in Bern auf, wo er sich zum Primarlehrer ausbilden lässt. Von 2005 bis 2009 studiert er in München (D) Philosophie, was er mit dem Magister abschliesst. Eine folgende Dissertation an der ETH Zürich bricht er 2014 ab, nachdem er mit der Novelle «Frühling der Barbaren» (2013) einen Bestseller landet. Das Werk ist für den Schweizer Buchpreis nominiert, den Lüscher 2017 für den Roman «Kraft» dann tatsächlich kriegt. Nun erhält er den alle vier Jahre vergebenen Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich. Lüscher ist schweizerisch-deutscher Doppelbürger und lebt mit seiner Frau, der deutschen Schauspielerin und Regisseurin Ulrike Arnold (56), in München.
Jonas Lüscher kommt 1976 in Schlieren ZH zur Welt, wächst in Bern auf, wo er sich zum Primarlehrer ausbilden lässt. Von 2005 bis 2009 studiert er in München (D) Philosophie, was er mit dem Magister abschliesst. Eine folgende Dissertation an der ETH Zürich bricht er 2014 ab, nachdem er mit der Novelle «Frühling der Barbaren» (2013) einen Bestseller landet. Das Werk ist für den Schweizer Buchpreis nominiert, den Lüscher 2017 für den Roman «Kraft» dann tatsächlich kriegt. Nun erhält er den alle vier Jahre vergebenen Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich. Lüscher ist schweizerisch-deutscher Doppelbürger und lebt mit seiner Frau, der deutschen Schauspielerin und Regisseurin Ulrike Arnold (56), in München.
Verändert sich im Alter der Humor?
Ich hoffe, ich habe eine anderen Humor, als ich ihn mit sechs, sieben Jahren hatte – es gibt ja nichts Langweiligeres als Kinder, die einem selbst erfundene Witze erzählen. Aber der Humor hat sich in den letzten Jahren auch in der Gesellschaft verändert – nicht zum Schlechtesten. Wir sind aufmerksamer, wie verletzend Humor sein kann. Das zwingt uns zu intelligenterem Witz.
Können Sie sich eine Ehe ohne Humor vorstellen?
Oh nein!
Welche Probleme löst die gute Ehe?
Eine gute Ehe ist eine mit viel Liebe. Und Liebe löst schon fast alle Probleme.
Möchten Sie Ihre Frau sein?
Wenn ich mit jemandem meine Persönlichkeit tauschen müsste, wäre meine Frau bestimmt eine gute Wahl. Für einen Tag, so als Experiment, wäre das sehr interessant, aber vielleicht auch ernüchternd, weil ich mich dann selber mit ihren Augen sähe.
Tun Ihnen die Frauen leid?
Einzelne natürlich schon, aber nicht die Frauen per se. Das brauchen sie nicht.
Können Sie sich eine Frauenwelt vorstellen?
Das kann ich mir natürlich vorstellen – dafür gibt es auch Beispiele in der Literatur, die sehr weit zurückreichen. Aber ich weiss nicht, ob das so interessant wäre. Eine Welt, in der das Geschlecht keine Rolle spielt, wäre vielleicht wünschenswerter.
Was bewundern Sie an Frauen?
Ich bewundere einzelne Frauen, aber nicht die Frau als Geschlecht – auch das braucht sie nicht.
Möchten Sie eine reiche Frau?
Geistreich – unbedingt.
Wie viel Geld möchten Sie besitzen?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, und darin liegt vermutlich auch die Antwort: Ich möchte genug besitzen, damit ich nicht darüber nachdenken muss, aber auch nicht so viel, dass ich wieder darüber nachdenken muss.
Hassen Sie Bargeld?
Nein, auch wenn Münzen und Noten während einer Pandemie ein hygienisches Problem sind. Und solange der Pappbecher des Bettlers nicht mit einem Kartenlesegerät ausgestattet ist, ist Bargeld wichtig.
Fürchten Sie sich vor den Armen?
Das sollten wir alle. Erinnern Sie sich, was ich eben über die revolutionäre Kraft des Hasses und der Wut gesagt habe? Ungleiche Gesellschaften sind instabile Gesellschaften. Und ungleiche Gesellschaften sind ungerechte Gesellschaften. Ungerechtigkeit ist fürchterlich.
Was tun Sie für Geld nicht?
Ich versuche eigentlich, nie Dinge nur für Geld zu machen. Ich halte es für ein grosses Privileg, dass mir das in den letzten Jahren recht gut gelungen ist.
Wie viele Freunde haben Sie zurzeit?
Erstaunlich viele und ein paar sehr enge. Es gab mal eine Zeit, in der ich zu wenige Freunde hatte. Aber über meine Arbeit als Autor habe ich sehr viele, sehr interessante und gute Leute kennengelernt.
Halten Sie sich für einen guten Freund?
Ich bemühe mich, einer zu sein.
Sind Sie sich selber ein Freund?
Nicht immer – ich neige manchmal dazu, mir ein Feind zu sein.
Halten Sie die Natur für einen Freund?
Wir sollten sie zumindest so behandeln, als wäre sie ein kostbarer Freund. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie zum Feind.
Sind Sie sicher, dass Sie der Erhalt des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
Über diese Frage habe ich als Jugendlicher viel nachgedacht. Und dieses Nachdenken hat mich sehr geprägt, weil die Antwort natürlich Ja lauten muss. Wir müssen uns bewusst sein, dass es nicht nur um uns, sondern um etwas Grösseres geht – und das meine ich nicht spirituell, sondern im Geist der Humanität.
Empfinden Sie die Erde überhaupt als heimatlich?
Ja, absolut – es ist vor allem die einzige Heimat, die wir haben. Ich halte die Idee, auf einen anderen Planeten umzusiedeln, nachdem wir die Erde zerstört haben, für ein grosses Hirngespinst und eine entsetzliche Idee. Mit Elon Musk möchte ich nicht in einer Raumkapsel sitzen – da bleibe ich lieber hier.
Hat Heimat für Sie eine Flagge?
Nein, mit Flaggen verbinde ich wenig und ehrlich gesagt eher Unangenehmes. Fahnenschwingen ist doch oft ein Ausdruck von Hurra-Patriotismus.
Wie viel Heimat brauchen Sie?
Ein Zuhause zu haben ist mir wichtiger als eine Heimat. Und zu Hause fühle ich mich in der deutschen Sprache. Der Heimatbegriff, der sich an ein Land koppelt, bedeutet mir nicht so viel – ich habe mittlerweile die Schweizer und die deutsche Staatsbürgerschaft. Und ich bin Europäer.
Möchten Sie unsterblich sein?
Um Gottes willen, auf keinen Fall!
Möchten Sie wissen, wie Sterben ist?
Ich war vor zwei Jahren sehr schwer an Covid erkrankt und habe über mehrere Wochen um mein Leben gerungen. Ich habe seither schon den Eindruck, ein klein wenig wisse ich, wie sich sterben anfühlt. Und ich kann sagen: Gestorben wird nicht so leicht. Das scheint mir ein ausgesprochen mühsames Geschäft.
Haben Sie Freunde unter den Toten?
Nein, denn das ist eine Bedingung der Freundschaft, dass sie nur unter Lebenden stattfinden kann. Deswegen ist der Tod eines Freundes ein unersetzlicher Verlust, eine Tragödie.
Hoffen Sie auf ein Jenseits?
Nein. Die Frage interessiert mich auch nicht besonders. Wir sollten uns durch die Jenseits-Frage nicht vom Diesseits ablenken lassen. Das war zu oft in der Menschheitsgeschichte eine Ausrede, sich nicht um eine Verbesserung der Verhältnisse kümmern zu müssen.
Was fehlt Ihnen zum Glück?
Wenn ich das wüsste …, dann würde ich danach greifen. Und dann fehlte mir vermutlich etwas anderes.