Es ist Sommer und Sängerin Leonie 32 Jahre alt. Sie trinkt hastig aus einer Weissweinflasche, bevor sie sichtlich nervös auf der Gartenparty von Carsten erscheint, den sie schon seit Kindheitstagen bewundert. Carsten, Mitte 50, ist ebenfalls Musiker – etwas abgehalftert, seine grossen Zeiten sind vorbei. Und er ist der Vater von Clara, ihrerseits Anwältin und Leonies beste Freundin. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiss: Leonie hatte ein Verhältnis mit Carsten. Eine mittlerweile erloschene «Amour fou», die an diesem Sommerabend aber wieder auflodert. Zu fortgeschrittener Stunde und nach noch mehr Weisswein kommen sich die Verflossenen wieder näher. Carsten möchte Sex mit Leonie – sie sagt Nein, für ihn scheint die Aussage nicht eindeutig, er bedrängt sie. Der Fall landet vor Gericht, die Familie zerbricht.
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Das ist die grobe Ausgangslage der ARD-Miniserie «37 Sekunden». Etwas mehr als eine halbe Minute reicht, um eine Familie in ihren Grundfesten zu erschüttern. Die Serie stellt die Gretchenfrage(n), ob nur Ja auch Ja oder eben nur Nein Nein heisst. Und sie zeigt, wieso man niemals aufhören darf, über sexualisierte Gewalt zu sprechen und ihren Opfern Gehör zu schenken. All diese Aspekte fiktional zu verarbeiten, durch juristische Grauzonen zu waten und dabei nie zu banalisieren, gleicht einer Herkules-Aufgabe – die Schweizer Regisseurin Bettina Oberli (50) hat sie gemeistert. Im Gespräch erklärt sie, was sie an diesem Stoff gereizt hat – und warum er in ihren Augen nur in Serien-Form erzählbar ist.
Frau Oberli, in letzter Zeit ist kaum ein Tag vergangen, an dem Medien nicht von den Missbrauchsvorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann berichteten. Ihre Serie setzt sich kritisch mit der Frage auseinander, wieso die Justiz im Zweifelsfall dem Angeklagten glaubt. Ist es ein glücklicher Zufall, dass «37 Sekunden» inmitten der Rammstein-Debatte erscheint?
Bettina Oberli: Von einem glücklichen Zufall möchte ich nicht sprechen. Als der Fall Lindemann publik wurde, war die Serie bereits im Kasten. Als Drehbuch-Autorin Julia Penner das Projekt initiierte, war MeToo noch nicht mal Thema. Aber: Man kann die beiden Fälle insofern vergleichen, als dass es um Machtstrukturen geht und um die Ausnützung junger Frauen. Der Unterschied liegt aber darin, dass wir uns bei «37 Sekunden» in einem Umfeld bewegen, in dem man sich kennt – und in dem Liebe im Spiel ist.
Der Sachverhalt ist ja aber um einiges vielschichtiger.
Es geht um die Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter und die familiäre Dynamik nach einem Übergriff. Darum hat mich das Projekt interessiert. Und darum war mir die richtige Form so wichtig, um die Story zu erzählen. In einer Serie von sechsmal 45 Minuten kann man den Dingen auch psychologisch wirklich auf den Grund gehen. Man kann mehr erzählen als bloss eine Opfer-Täter-Geschichte.
Bettina Oberli kam am 6. November 1972 in Interlaken BE zur Welt. Sie absolvierte das Lehrerseminar und liess sich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich zur Filmregisseurin ausbilden. Ihren Durchbruch schaffte sie 2004 mit «Im Nordwind». 2006 gelang ihr mit «Die Herbstzeitlosen» ein Kassenschlager. 2017 brillierte sie mit dem SRF-Zweiteiler «Private Banking». Oberli lebt in Zürich und ist mit Kameramann Stéphane Kuthy (51) verheiratet.
Bettina Oberli kam am 6. November 1972 in Interlaken BE zur Welt. Sie absolvierte das Lehrerseminar und liess sich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich zur Filmregisseurin ausbilden. Ihren Durchbruch schaffte sie 2004 mit «Im Nordwind». 2006 gelang ihr mit «Die Herbstzeitlosen» ein Kassenschlager. 2017 brillierte sie mit dem SRF-Zweiteiler «Private Banking». Oberli lebt in Zürich und ist mit Kameramann Stéphane Kuthy (51) verheiratet.
Sie meinen die Familiengeschichte, die höchst komplex ist. Immerhin geht es um ein Verhältnis zwischen einem Mann und der besten Freundin seiner Tochter.
Da gibt es ja auch widersprüchliche Situationen – Leonie und Carsten haben eine Liebesbeziehung geführt. Darauf hat sie sich ja eingelassen. Und auch er ist eine extrem spannende Figur: Er ist nicht offensichtlich sexistisch oder gewalttätig. Er ist ein intelligenter, poetischer, reflektierter Liedermacher. Mich hat gereizt, Figuren in ihrer ganzen Komplexität zeigen zu können.
Wie sind Sie das angegangen?
Indem ich Fragen gestellt habe wie: «Was macht so ein Fall mit dem Umfeld? Was macht er mit der Familie? Steht Familie wirklich immer über allem?» Und schliesslich: «Wie gehen wir als Gesellschaft damit um?» Uns war wichtig, die verschiedenen Perspektiven darzustellen – und auch zu zeigen, wie eine solche Dynamik entstehen kann. Wir wollten dabei aber auf keinen Fall die Aussage machen, dass ein Übergriff Ansichtssache ist. Ein Übergriff bleibt ein Übergriff.
Filmen und Serien wird oft nachgesagt, dass sie eine gewisse Aufgabe erfüllen müssen. Will «37 Sekunden» aufklären, erziehen – oder aufrütteln?
Die Serie ist kein «Racheprojekt» oder ein Projekt von wütenden Frauen. Wir hatten schliesslich mit David Sandreuther auch einen Mann im Autorenteam. Und mein langjähriger Editor Michael Schaerer hat den Schnitt geleitet – das ergibt auch noch einmal eine andere Perspektive. Wir wollten mit «37 Sekunden» auf jeden Fall den Beitrag zu einer Debatte leisten.
Sie hatten also keine Agenda?
Nein. Es ist mehr die Auseinandersetzung mit oder die Ergründung einer Frage. Und zwar: «Ab wann wird aus einer intimen Situation eine Situation, in der sich jemand nicht mehr wohlfühlt?» Wir hatten extrem wenig Zeit und ein sehr kleines Budget – vielleicht auch, weil man gedacht hat, dass es eine kleine Serie wird, die niemanden interessiert. Doch die enorm grosse und positive Resonanz in der deutschen Presse zeigt jetzt, dass das Thema sehr wohl etwas ist, das einen Nerv trifft.
«37 Sekunden» ist in der Online-Mediathek der ARD abrufbar.