Zürich an einem späten Freitagabend. Nur einen Katzensprung vom Hauptbahnhof und der Europaallee, wo Grosskonzerne wie Google ihren Schweizer Standort betreiben, lässt die Stadt an der Langstrasse die Sau raus. Nicht nur an Sommerwochenenden ist auf Zürichs Partymeile, die sich vom Limmatplatz bis zur Badenerstrasse erstreckt, kein Durchkommen. Hier mischen sich Studenten mit Bankern, Handwerkerinnen mit Tech-Nerds und Gestalten der Nacht mit Expats. Gemeinsam sitzen und stehen sie vor den unzähligen Bars und 24-Stunden-Shops, leeren Bier- und Wodkaflaschen: «Langschtrass, Langschtrass, Schtrass vo de Träum. Schlaflosi Gass, jede Tag vo Neum. Was immer du suechsch, da une chunsches über», besingt die Zürcher Rap-Combo Radio 200'000 die Strasse Zürichs, die sich tatsächlich etwas nach Grossstadt anfühlt. Genau hier setzt «Early Birds» an, der neue Film des Schweizer Regisseurs Michael Steiner (54).
«Was immer du suechsch, da une chunsches über»: Wer hier sucht, der findet – das gilt auch für Drogen. Und die spielen in der Netflix-Produktion des Zürcher Filmemachers eine zentrale Rolle. «Early Birds» erzählt die rasante Geschichte zweier junger Frauen, die mehr oder minder zufällig Zeuginnen eines geplatzten Kokain-Deals werden und mit jeder Menge Geld und Drogen vor dem Milieu flüchten – inklusive Verfolgungsjagden und Anatole Taubman (52) als korruptem Polizisten. Im Interview mit Blick erklärt Regisseur Steiner seine Faszination für den «Sündenpfuhl» Langstrasse – und prangert die fehlende Unterstützung einer Zürcher Filmstiftung an.
Herr Steiner, «Early Birds» spielt im Langstrassen-Winter. Draussen schneit es – und auch sonst dreht sich in ihrem Film viel um weisses Pulver. Dazu kommen intrigante Polizisten, Schiessereien und jede Menge Blut. Ist das nicht etwas übertrieben?
Natürlich ist das alles Übertreibung. Die Langstrasse ist für Nicht-Zürcher ein Mythos. Dessen sind sich viele Zürcherinnen und Zürcher gar nicht bewusst. Und diesen Mythos haben wir als Kulisse für «Early Birds» benutzt. Die Langstrassse bietet den Rahmen dafür, was alles in dieser Stadt passieren könnte. Wir haben der Langstrasse mit unserem Film eine zeitgenössische Hymne gewidmet.
Jeder Mythos fusst aber auch auf etwas Realität.
Vor einigen Wochen gab es ja leider einen Mordfall – ja, die Langstrasse hat definitiv noch die düstere Milieufacette, wo Tragödien geschehen. Meistens ist sie aber eine bunte und fröhliche Strasse. Du kannst dich hier ungestört «verluschtiere». Sie ist ein eigenes Biotop. In Deutschland würde man das «Kiez» nennen.
Welchen Nutzen hat diese Überzeichnung denn filmisch?
Man darf nicht vergessen, dass es sich hier um eine Netflix-Produktion handelt. Den Film wird man auch international sehen – im Ausland erwartet keiner, dass es in unserer schönen, sicheren Schweiz so eine Strasse gibt. In «Early Birds» ist alles fiktionalisiert. Es ist pure Unterhaltung im Genre des sogenannten Neo Noir, also treibend und düster.
Dennoch: Ich stelle mir den Dreh an einem so lebendigen Ort schwierig vor.
Wir haben vieles tagsüber gedreht, da ist natürlich weniger los. Es kam aber schon vor, dass eine zwielichtige Gestalt ins Bild gelaufen ist – das macht aber nichts. Ich glaube, die Menschen an der Langstrasse kennen und mögen mich. Es lag aber auch daran, dass «Early Birds» eine Netflix-Koproduktion ist und es sich für die Anwohner darum nicht um einen Schweizer Film handelte. Der Schweizer Film hat offensichtlich viel Goodwill bei den Leuten verspielt. Leider.
Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit Netflix vorstellen?
Unproblematisch und angenehm. Man hat mit Netflix einen Partner, der weiss, was er will und ein Ziel hat: Zuschauer auf ihrer Plattform. Ich verstehe nicht, wieso ein eher kommerzieller Ansatz in der Schweizer Kulturszene immer mit Argwohn betrachtet wird. Wer den Film, die teuerste aller Künste anfasst, sollte doch die Leute ins Kino oder vor den Bildschirm bringen. Viele Filme, die hierzulande gefördert werden, landen nach einem Festival direkt im Archiv der Cinémathèque Suisse, weil sie keinen Kinoverleiher finden. Einige Filme zumindest sollten aber das Licht der Leinwand erblicken, das wäre, glaube ich, die Idee einer staatlichen Filmförderung – dass das Volk sein Land filmisch umgesetzt sehen kann.
Sie stehen der Filmförderung hierzulande offenbar kritisch gegenüber.
Die Zürcher Filmstiftung hat uns bei diesem Film, der vom Setting her nicht zürcherischer sein könnte, leider nicht unterstützt. Das Drehbuch war ihnen zu unausgegoren. Immerhin können wir uns nun auf die ausgegoreneren Filme freuen, die wir hoffentlich bald in vielen Kinos sehen werden.
Zu diesem Gedanken passt, dass Sie in «Early Birds» nebst dem Film Noir und dem Thriller auch beliebte Genres wie das Roadmovie bedienen. Zwei Frauen, die mit einem Auto Reissaus machen – «Thelma & Louise» lässt grüssen.
Ja, das stimmt. Mich hat der Szenenwechsel gereizt, der in der Schweiz möglich ist: Hier ist man noch in Zürich – und dann plötzlich in den Bergen. Hier die verruchte Langstrasse, da die malerische Schweiz. Das ist die grosse Qualität unseres Landes. Und die wollte ich mit diesem Film als Gruss aus der Schweiz für Netflix unbedingt zeigen.
... mit dem Sie zwar nicht das Zurich Film Festival, aber das neue Kino Frame, das vom ZFF betrieben wird, eröffnen konnten.
Als Zürcher Filmemacher ist es das Schönste, auch mit einer Vorpremiere Teil des ZFF zu sein. Die Verantwortlichen des ZFF haben meine Filme immer sehr unterstützt. Und für Zürich ist dieses Festival die beste Plattform für Filmkunst geworden. Der Film ist in Zürich jedes Jahr König im September. Dafür danke ich dem ZFF von Herzen.
«Early Birds» läuft aktuell am Zurich Film Festival und kommt am 12.10. regulär in die Kinos.