Interview mit Krimikönigin Christine Brand
«Er war der Einzige, der einen Familienmord überlebte»

Die Schweizer Bestseller-Autorin Christine Brand (49) über ihren neuen Krimi «Der Unbekannte», ihren schlimmsten Fall als Gerichtsreporterin und das Erstaunen, dass die Polizei sie noch nie verhaftet hat.
Publiziert: 24.04.2022 um 16:09 Uhr
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«Ich finde es hier schon sehr komfortabel»: Christine Brand in Zürich.
Foto: Thomas Meier
Daniel Arnet

Frau Brand, «Der Unbekannte» heisst Ihr neuer Krimi, in dem Sie einen Altbekannten als Hauptfigur auftreten lassen: den blinden Nathaniel. Was mögen Sie an ihm?
Christine Brand:
Nathaniel beeinflusste meinen Werdegang als Autorin enorm. Ich bekam den Vorschuss von mehreren Zehntausend Franken und den Vertrag beim Buchverlag Blanvalet vermutlich nur, weil sie Freude hatten an einem blinden Protagonisten.

Kannte der Verlag damals das Manuskript Ihres späteren Bestsellers «Blind», in dem Nathaniel 2019 erstmals auftritt?
Das ist eine verrückte Geschichte: 2016 war ich für sieben Monate auf einer Weltreise, als ich «Blind» fertig schrieb. Ich schickte meinem Agenten die Datei, die im Internet fast verloren ging. Mit dem Text suchte er dann einen Verlag für mich.

Seit «Blind», dem ersten Ihrer mittlerweile vier Krimis der Bandini-&-Nova-Reihe, ist Nathaniel auch Liebling der Leserschaft. Bekommen Sie Fanpost dank ihm?
Sehr viele Leserinnen und Leser sind Fans seiner Blindenhündin Alisha. Und ich bekomme sehr viele Zuschriften von Sehbehinderten oder Blinden, die dankbar sind, dass Nathaniel nicht ein Opfer ist, sondern Fälle lösen kann.

Gibt es ein reales Vorbild für Nathaniel?
Ja, er heisst Silvan Spycher. Ihm begegnete ich als junge Journalistin, als ich für die «Berner Zeitung» im Oberaargau arbeitete. Dort liegt Lotzwil, wo Silvan lebte. Er ist wie Nathaniel im Krimi Opfer eines Familiendelikts: Er war der Einzige, der einen Familienmord überlebte.

«Nach Familiendrama: Sohn bleibt blind», schrieb der Blick 1986.
Im Gegensatz zu Nathaniel verlor Silvan damals auch noch den Geruchssinn – das macht es für ihn doppelt schwierig. Wir hatten immer losen Kontakt. Nach Jahren, als ich an «Blind» arbeitete, rief ich ihn wieder an.

Seit «Blind» starten Sie richtig durch, sind zeitweise mit mehreren Büchern in der Bestsellerliste. Überrascht Sie der Erfolg?
Absolut! 2021 war ich mit vier Büchern in den Schweizer Bestsellerlisten – das war ein verrücktes Jahr.

Und dann waren Sie auch auf der deutschen «Spiegel»-Bestsellerliste.
In Deutschland verkaufe ich noch mehr als in der Schweiz. Alle Bücher, die bei Blanvalet erschienen sind, haben sich insgesamt 200’000-mal verkauft, «Blind» ist mit 85’000 Exemplaren der Spitzenreiter.

«Schweizer Krimi-Königin» lautet der Titel eines Porträts über Sie, doch die Königin lebt hier nicht in einem Schloss, sondern in einer WG.
Wenn ich in der Schweiz bin, lebe ich in Zürich bei einer Freundin. Dort habe ich nicht viele Sachen: Bett, Tisch, Akkordeon, ungelesene Bücher und Kleider.

Weshalb so bescheiden?
Ich finde es hier schon sehr komfortabel. Wenn ich aus Afrika komme und eine Weile hier bin, will ich wieder aus dieser Komfortzone raus – ich ertrage sie fast nicht mehr. Aber ich reiste halt schon mit 20 als Backpackerin durch Afrika.

Alleine?
Fast immer alleine. Sobald ich unterwegs bin, bin ich ein glücklicher Mensch.

Hatten Sie nie Angst?
Es gab natürlichen Situationen, da wusste ich: Das ist momentan nicht so gut. Aber ich bin Gott sei Dank kein ängstlicher Mensch. Angst bremst einen nur aus, und in 99 Prozent aller Fälle ist sie überflüssig.

Woher diese Unerschrockenheit?
Ich habe schon das Gefühl, dass es damit zu tun hat, wie ich aufwuchs: Mein Vater war Bestatter in Oberburg im Emmental, und so war der Tod schon präsent, als ich ein kleines Meitschi war. Ich durfte die Urgrossmutter im Sarg schmücken – damals war ich etwa zehn Jahre alt.

Was lehrte Sie das?
Für mich war früh klar, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt aus irgendeinem Grund sterben kann. Als ich 20 wurde, war ich wahnsinnig stolz, dass ich so alt wurde, ohne zu sterben. Das lehrt einen, bewusster zu leben.

Feuer und Flamme für Krimis

Links ein frisch geschossener Rehbock beim Jäger zu Hause, rechts eine eben geschlachtete Sau in der Metzgerei und in der Mitte die tote Urgrossmutter im Sarg des Zimmermanns Brand: In Oberburg BE wächst Christine Brand mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester in einem morbiden Umfeld auf und verliert früh die Berührungsangst vor dem Tod. Nach dem Lehrerinnenseminar in Langenthal BE macht sie ein Volontariat bei der «Berner Zeitung». Von 1996 bis 2004 ist sie (Gerichts-)Reporterin beim «Bund». 2005 absolviert Brand eine Ausbildung zur Fernsehjournalistin bei der «Rundschau» von Fernsehen SRF, wo sie bis 2008 als Redaktorin arbeitet. Von 2008 bis 2017 ist Brand Gerichtsreporterin bei der «NZZ am Sonntag» und kündigt den Job, nachdem sie vom Buchverlag Blanvalet einen Vorschuss bekommt. Seither ist Christine Brand freie Schriftstellerin und stürmt mit Krimis wie «Blind» oder True-Crime-Büchern wie «Bis er gesteht» die Bestsellerlisten. Brand lebt aktuell abwechselnd auf Sansibar und in Zürich.

Christine Brand beim Interview in Zürich.
Thomas Meier

Links ein frisch geschossener Rehbock beim Jäger zu Hause, rechts eine eben geschlachtete Sau in der Metzgerei und in der Mitte die tote Urgrossmutter im Sarg des Zimmermanns Brand: In Oberburg BE wächst Christine Brand mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester in einem morbiden Umfeld auf und verliert früh die Berührungsangst vor dem Tod. Nach dem Lehrerinnenseminar in Langenthal BE macht sie ein Volontariat bei der «Berner Zeitung». Von 1996 bis 2004 ist sie (Gerichts-)Reporterin beim «Bund». 2005 absolviert Brand eine Ausbildung zur Fernsehjournalistin bei der «Rundschau» von Fernsehen SRF, wo sie bis 2008 als Redaktorin arbeitet. Von 2008 bis 2017 ist Brand Gerichtsreporterin bei der «NZZ am Sonntag» und kündigt den Job, nachdem sie vom Buchverlag Blanvalet einen Vorschuss bekommt. Seither ist Christine Brand freie Schriftstellerin und stürmt mit Krimis wie «Blind» oder True-Crime-Büchern wie «Bis er gesteht» die Bestsellerlisten. Brand lebt aktuell abwechselnd auf Sansibar und in Zürich.

Eben waren Sie wieder viereinhalb Monate auf der afrikanischen Insel Sansibar. Was gefällt Ihnen dort besser?
Das Klima. In der Schweiz ist es mir schnell zu kalt, und in Sansibar scheint immer die Sonne – das ist ein unglaubliches Geschenk für mich. Das ist eigentlich der Grund, weshalb ich Schriftstellerin wurde.

Geht ein solches Leben denn nur als Autorin?
Der Krimiautor Henning Mankell war mit seinem Lebensstil ein Vorbild für mich: Er lebte die Hälfte der Zeit in Mosambik, die andere Hälfte in Schweden. Bevor ich Bücher schrieb, sagte ich mir: «Wow, so möchte ich auch leben.» Und nun bin ich auf Sansibar.

Vermissen Sie dort als gebürtige Emmentalerin den Käse?
Ja, Käse ist ein Thema. Wenn meine Freundin und ich etwas zu feiern haben, gehen wir ins Hyatt auf Sansibar, weil es dort zum Brunch Käse gibt. Und manchmal vermisse ich auch einen grünen Blattsalat.

Und abgesehen vom Essen?
Stromausfälle sind ein Problem: Ich bin froh, habe ich einen Computer mit grossem Akku.

Haben Sie Ihre Bücher alle im Ausland geschrieben?
Viele: eines in Sydney, eines in Kapstadt, eines in Lissabon. Und «Blind» ist tatsächlich auf fünf Kontinenten entstanden. In letzter Zeit arbeitete ich vor allem auf Sansibar und noch zwei Monate auf der italienischen Insel Lipari.

Sie sind offensichtlich gerne auf Inseln.
Stimmt! Auf Bali hat es zum Beispiel viele Expats, die Hunde haben und Sitter für die Tiere suchen. Das ist optimal für mich, da ich Hunde liebe. So konnte ich schon ein paar Monate in den schönsten Villen mit Pool wohnen.

Das klingt mehr nach Ferien als nach Arbeit. Wie diszipliniert sind Sie am Schreiben?
Es gibt Tage, an denen ich mehr, Tage, an denen ich weniger arbeite, aber Wochenende habe ich nie – ich arbeite jeden Tag.

Auf den Inseln sind Sie eine Unbekannte. Was erzählen Sie den Einheimischen über Ihre Tätigkeit?
Wenn jemand fragt, sage ich, dass ich Krimis schreibe, aber ich hänge das nicht an die grosse Glocke. Die Leute vor Ort kennen mich nicht als Schriftstellerin, denn es ist noch kein Buch in ihre Sprache übersetzt – nur «Blind» gibt es mittlerweile auf Tschechisch.

Warum schreiben Sie nicht über dortige Kriminalfälle, sondern immer nur über Morde in der Schweiz?
Es gibt einen Verlag, der ein grosses Interesse an Sansibar-Krimis hätte; die Insel würde sich gut eignen, denn dort passieren die abstrusesten Sachen. Aber im Moment habe ich fünf Bücher im Kopf, die ich unbedingt schreiben will – drei davon muss ich demnächst fertigstellen, weil ich Verträge unterschrieb.

Welche drei Bücher sind das?
Ein neuer Fall der Bandini-&-Nova-Reihe. Dann beginne ich mit einer Polizistin aus diesen Romanen eine Spin-off-Serie – die wird selber Privatermittlerin und reist ins Ausland. Und dann kommt noch ein Buch mit wahren Verbrechen raus.

Früher waren Sie Gerichtsreporterin für den Berner «Bund» und die «NZZ am Sonntag». Welcher Fall prägte Sie am meisten?
Der krasseste Fall war schon der von Rupperswil. Aber ich war auch am Fritzl-Prozess – dort waren die Gegend und das Gericht sehr seltsam. Ebenfalls prägend war der Zwillingsmord von Horgen, über den ich das Buch «Bis er gesteht» schrieb.

Wo liegt der Unterschied, wenn Sie über solche realen Fälle oder an fiktiven Krimis schreiben?
Wenn mir eine Figur im Krimi auf die Nerven geht, kann ich sie umbringen oder ins Gefängnis stecken – da fühle ich mich manchmal wie in einem grossen Theater, in dem ich alle Funktionen innehabe. Das ist wie Schicksal spielen.

Können Sie es nicht ertragen, dass in Wirklichkeit manche Fälle ungelöst bleiben – und denken Sie die dann in den Krimis zu Ende?
Ich würde gerne Romane schreiben, in denen man am Schluss die Lösung gar nicht kennt. Aber es ist leider so, dass Leserinnen und Leser das nicht so goutieren – die wollen ein klares Ende haben.

In «Der Unbekannte» lösen Sie den Familienmord aus «Blind», den Nathaniel als Einziger, allerdings erblindet, überlebte. Wussten Sie von Anfang an, dass Sie «Blind» noch einen solchen Dreh geben wollen?
Nein, ich hatte dieses Buch damals überhaupt nicht im Kopf.

Richter zu sein ist also kein Motiv für Ihr Roman-Schreiben?
Nein, und ich bin wahnsinnig froh, dass ich nie Richterin wurde. Ich war im Gericht manchmal hin- und hergerissen.

Wie zeigte sich das?
Wenn der Staatsanwalt sprach, dachte ich: «Ja, der ist schuldig.» Nach dem Plädoyer der Verteidigung dachte ich: «Oh nein, vielleicht ist er trotzdem unschuldig.» Ich war immer froh, musste ich nur berichten und nicht richten.

Gehen Sie bei Ihren Krimis noch journalistisch oder bereits kriminalistisch vor?
Ich habe im Unterschied zum Journalismus alle Freiheiten im Schreiben und kann erfinden, aber alles muss stimmen – da bin ich noch zu sehr Journalistin, als dass es ein Wunder gäbe und der Täter gefasst würde. Und ich habe auch wichtige Helfer.

Welche denn?
Einen frisch pensionierten Polizisten von der Kantonspolizei Zürich, der ein Arbeitsleben lang Morddelikte aufklärte, einen Freund, der bei der Bundespolizei in der Sondereinsatzgruppe arbeitet, einen emeritierten Rechtsmediziner und eine Freundin, die forensische Psychologin ist.

Was wollen Sie von denen wissen?
Etwa wie ich jemanden umbringen kann, damit es aussieht als wäre es Suizid. Manchmal bin ich fast ein wenig überrascht, dass mich die Polizei noch nie verhaftete.

Weshalb sollte sie?
Die E-Mails, die ich meinen Helfern zusende, laufen schon fast unter dem Straftatbestand «Vorbereitungshandlungen zum Mord».

Christine Brand, «Der Unbekannte», Blanvalet; das Buch ist ab 26. April im Handel

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