Exklusiver Vorabdruck aus «Rasser. Kabarett Schweiz»
Vom Seppli zum Läppli

Am Anfang steht Alfred Rasser (1907–1977), Erfinder des unsterblichen HD Läppli. Ein exklusiver Vorabdruck über die Erfindung der Bühnen- und Filmfigur aus der Geschichte der Basler Künstlerfamilie Rasser.
Publiziert: 04.11.2023 um 00:41 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2023 um 10:04 Uhr
Renè Lüchinger und Birgitta Willmann

Alfred Rasser ist sechzehnjährig, noch fast ein Kind. An einem trüben Sonntagmittag hockt er bei einem Freund und dessen Eltern zu Hause. Alles ist gelangweilt. Einer ruft: «Komm, Alfred, bring was!» Und Alfred bringt was. Dies und das. Lässt ein paar seiner Bühnengestalten im Wohnzimmer paradieren. Keine zündet wirklich.

Plötzlich passiert etwas und er hat ein Gesicht vor sich. Eine Figur. Einen Charakter. «Ich weiss nicht, woher», erinnert sich Alfred Rasser später, «irgendwoher aus der Tiefe meiner Seele. Er nahm ganz von mir Besitz. Er rührte mich beinahe zu Tränen und das tat er auch mit den Zuschauern. Sie lachten und hatten Tränen in den Augen.» Er, das ist der Seppli. Der Seppli hat etwas Kindliches. «Plötzlich», sagt Alfred Rasser, «war er da, der Hilflose, Einfältige, der Naive, der Unwissende, der in seiner Beschränktheit doch so beneidenswerte und glückliche Seppli, in seiner ganzen Güte und Pfiffigkeit. Er war mir zugefallen. Seine Geburt fand im Jahre 1923 statt.» Im Wohnzimmer eines Freundes. An einem Sonntagmittag. Am Tag des Herrn. Entsprungen aus dessen Fantasie. Ein Einfall des Augenblicks gegen die Langeweile.

Ein Einfall des Augenblicks gegen die Langeweile: Alfred Rasser als Läppli.
Foto: Blick

Lässt sich so etwas wiederholen? Mehrfach wiederholen? Ausserhalb der Intimität eines privaten Wohnzimmers? Institutionalisieren gar? Alfred Rasser tastet sich in grossen Schritten vorwärts mit seinem Seppli, der später, bei seiner Bühnenpremiere im Jahr 1935, Läppli heisst: im Gambrinus in Basel, beim Jungfernauftritt des Cabarets Resslirytti, beim ersten Auftritt des Alfred Rasser als professioneller Kabarettist. Der registriert rasch: Der Läppli hat die Lacher stets auf seiner Seite. Auch in seinem eigenen Cabaret Kaktus ist der Läppli in immer neuen Variationen Dauergast, und die Zuschauer halten sich immer und immer wieder die Bäuche: Fitnessprogramm für die Lachmuskeln.

Der Läppli lässt sich also wiederholen. Liegt aber noch mehr drin? Alfred Rasser macht sich darüber keine Gedanken – er denkt immer nur an den nächsten Auftritt, an das nächste Programm von seinem Kaktus. Es ist ein anderer, der das tut. Kurt Reiss, Auslandschweizer mit jüdischen Wurzeln, der nach dem Ersten Weltkrieg im Berlin der Weimarer Republik als Literaturagent tätig war, 1935 vor den Nationalsozialisten nach Basel floh und dort nun einen Verlag betreibt, in dem er zunächst deutsche Exilautoren und später auch Schweizer Schriftsteller verlegt – ein Mann, der sich auskennt in der Literaturszene. Im Sommer 1945 hat sich Alfred Rasser bei einer Wanderung über den Segnespass bis nach Flims gerade seine Sohlen abgelaufen, als dieser Kurt Reiss ihn auf der Strasse entdeckt und wild gestikulierend auf ihn einredet. Er müsse aus seinem Läppli ein abendfüllendes Stück schreiben. Unbedingt! Er habe da auch eine Idee: Er müsse «Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk» hernehmen von einem Typen namens Jaroslav Hašek. Und daraus ein Läppli-Stück machen! Unbedingt!

Hašek? Schwejk? Das sagt Alfred Rasser zunächst nicht viel. Jaroslav Hašek ist Tscheche, eine verkrachte Existenz, die vor dem Ersten Weltkrieg von der Schriftstellerei zu leben versucht und oftmals zu tief in die Flasche schaut. Im Krieg dient er in der k.u.k. Armee an der Ostfront und verarbeitet diese Erlebnisse ab 1920 zu seinem Hauptwerk «Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkriegs». Da fliesst Erlebtes, Autobiografisches und Zusammengeklaubtes in der Hauptfigur zusammen: der Schwejk, ein trotteliger Hundefänger aus Prag, ein Antiheld, der sich mit List und Witz durch das Soldatenleben schlägt, mit Einfalt und Eigensinn um plötzlich auftauchende Gefahren herumstolpert und so mit überraschender Chuzpe und devotem Gehorsam Vorgesetzte zur Weissglut treibt und die Armee der Lächerlichkeit preisgibt. Er repräsentiert die personifizierte «Unlust des tschechischen Volkes, für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie in den Ersten Weltkrieg zu ziehen», urteilt der «Spiegel» einmal. Autor Hašek schreibt buchstäblich bis in den eigenen Tod hinein an seinem «Schwejk» – als ihn der Alkohol und eine im Krieg zugezogene Tuberkulose mit neununddreissig Jahren dahinraffen, endet seine Arbeit mitten in einem Satz. 

Rasser durchleidet beim Lesen des «Schwejk» nächtelange Lachkrämpfe.

Alfred Rasser ist jedenfalls begeistert, als er den «Schwejk» in Händen hält, und durchleidet beim Lesen «nächtelange Lachkrämpfe». Er studiert eine Bühnenfassung, die der humoristische Schriftsteller Hans Reimann zusammen mit dem aus einer deutsch-jüdischen Prager Familie stammenden Theaterkritiker Max Brod zu Papier gebracht hat und die am Stadttheater Basel aufgeführt wird. Am Stoff versucht sich auch der grosse Bertolt Brecht, und beim Cornichon existieren gar vage Pläne, den «Schwejk» «einzuschweizern». Wirklich an die Arbeit macht sich aber nur Alfred Rasser und mit ihm, ähnlich fasziniert vom 0Schwejk›, sein langjähriger kabarettistischer Weggefährte C. F. Vaucher. Es wird ein schweisstreibender Mehrfronten-Nahkampf mit dem «Schwejk». Aus dem voluminösen Werk pickt Alfred Rasser zunächst die Rosinen heraus, die sich zur Aktivierung der Lachmuskeln am ehesten eignen. Bald schon treten jedoch fast unüberwindbar scheinende dramaturgische und textliche Schwierigkeiten auf. Die Sprache von Hašeks ‹Schwejk› ist geprägt vom Prag der Jahrhundertwende, und die einzig existierende deutsche Übersetzung stammt von einer Moldau-Deutschen, die die Figur recht freihändig im böhmischen Akzent und grosszügig entfernt vom Original verortet. All das ist kaum kompatibel mit dem Läppli-Baseldytsch, dem Basler Dialekt, den Rassers Hauptfigur zu parlieren hat. Und dann gilt es auch, die Handlung von der Ostfront des Ersten Weltkriegs und der k.u.k. Armee in die Aktivdienstgeneration in der vom Zweiten Weltkrieg verschonten Schweiz zu übertragen.

Es ist ein grösseres Unterfangen, das keineswegs generalstabsmässig geplant ist. Im Gegenteil: Die Geburt des Theophil Läppli aus Buckten, Baselland, bringt alle Beteiligten ans Limit und darüber hinaus. Vor allem den Geburtshelfer Alfred Rasser, der tagsüber sein Cabaret Kaktus zu leiten hat, abends mit ebendiesem auf der Bühne steht und nachts – manchmal zusammen mit C. F. Vaucher – an seinem Läppli textet. Er plündert das dreibändige Werk Hašeks und die Bühnenfassung nach Szenen, die er «verschweizern» kann, dichtet Schweizerisches dazu, komponiert einen «helvetischen Schwejk». Seine Gemütslage schwankt dabei zwischen Nervosität und Niedergeschlagenheit. Immer spürt er die Angst im Nacken, es nicht zu schaffen. Am Silvester des Jahres 1945 soll der Läppli im Basler Küchlin-Theater schliesslich uraufgeführt werden. Immer morgens gegen 8 Uhr, nach schreibenderweise durchgestandener Nacht, pflegt der Schwager Arnold Gruber, an Alfred Rassers Zimmertür klopfend, zu rufen: «Hast du was?» 

Immer die Angst im Nacken, es nicht zu schaffen: Rasser mit einem Blick.
Foto: Blick

Um 10 Uhr, wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler zur Probe erscheinen, ist Aufregung. In die Hand gedrückt bekommen sie auf Durchschlagpapier vervielfältigte Textfragmente des Läppli – die nächtliche Produktion von Alfred Rasser. Sie proben an einem Stück, dessen Ende sie nicht kennen – es ist gewissermassen Ad-hoc-Schauspielerei. Es gibt Augenblicke, in denen die Nerven blank liegen. C. F. Vaucher will zwischenzeitlich die Regie niederlegen; ähnlich der Schauspieler Ruedi Walter, der als Soldat Misli vorgesehen ist – neben Läppli die grösste Rolle. Aber der Läppli lässt sich nicht mehr aus der Welt drücken. Und plötzlich sprudelt es beim Autor: Er bringt Szene um Szene zu Papier. C. F. Vaucher fängt Feuer, schweisst die Kaktus-Truppe zu einer verschworenen Läppli-Truppe zusammen. Und wieder ist Alfred Rasser selber besonders gefordert: Da er abends im laufenden Programm auftritt, nachts am Läppli textet, hat er keine Zeit, seine Hauptrolle zu lernen. Immer wenn geprobt wird, hat sich ein Schauspieler, der gerade nicht auf der Bühne steht, in den Souffleurkasten zu verkriechen, um ihm textlich auf die Sprünge zu helfen. Und auch beim Schreiben kommt er wieder in Verzug. Die letzten Texte werden erst an Weihnachten 1945, eine Woche vor der Premiere, an die Darsteller verteilt. Keiner hat mehr einen Überblick darüber, wie viel Text der Läppli schliesslich umfasst, geschweige denn, wie viel Zeit er auf der Bühne benötigt. 

An der Silvesterpremiere, das neue Jahr 1946 ist fast schon angebrochen, steht der Läppli um Mitternacht jedenfalls noch immer auf den Brettern im Küchlin, und die tausend Zuschauer im Theater biegen sich noch immer vor Lachen.

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Alfred Rassers grosses Ziel ist und bleibt in all den Läppli-Jahren freilich das ganz grosse Kino: ein abendfüllender Streifen mit seinem HD Läppli.

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Ziel bleibt das ganz grosse Kino: Rasser im Film «HD Soldat Läppli».

Für seinen Kinofilm «HD-Soldat Läppli» verlässt sich Alfred Rasser nun auf seine alten Seilschaften. Vor der Kamera steht praktisch die gesamte ehemalige Kaktus-Truppe und auch Roland Rasser, der inzwischen erwachsene Sohn. Als Produzent fungiert Walter Kägi, der bereits beim Kurzfilm «Läppli am Zoll» mit von der Partie gewesen war. Und als Regisseur gelingt es ihm tatsächlich über alle inzwischen angeschwemmten persönlichen Differenzen hinweg, seinen alten Kumpan C. F. Vaucher zu reaktivieren, der 1945 bereits die Bühnen-Urform des HD Läppli inszeniert hatte und als Einziger in der Lage scheint, Alfred Rassers überbordend-ausuferndes Schauspiel wirkungsvoll zu kanalisieren – Vaucher hatte in Basel mit dem «Millionär Läppli» gerade ein weiteres Läppli-Derivat auf die Bühne gebracht. Und der Zürcher Filmverleiher Richard E. Stamm streckt nun für den «Läppli»- Film Produktionskosten von 300’000 Franken vor.

Alles ist also endlich angerichtet für den ganz grossen filmischen Auftritt. Und die Sache beginnt vielversprechend. Vom 1. bis 6. Juni 1959 und vom 6. bis 18. August sind unter der Regie von C. F. Vaucher einige Szenen bereits abgedreht, als das Filmprojekt bereits wieder im Sumpf des persönlichen Kleinkriegs unterzugehen droht. «Die Dreharbeiten gestalten sich als sehr schwierig und das Budget ist äusserst knapp», urteilt der Filmhistoriker Hervé Dumont, «Rasser zieht so sehr alles an sich, dass seine Streitereien mit Vaucher eine fast zweimonatige Unterbrechung provozieren.» Hinzu kommt: Produzent Walter Kägi gerät gegenüber dem Regisseur mit den vereinbarten Tantiemen – 1500 Franken pro Drehtag – in Verzug. C. F. Vaucher aber, der neuerdings in Trennung mit seiner Frau lebt, braucht das Geld dringend. Im November 1959, als die Dreharbeiten wieder aufgenommen werden, sind die offenen Beträge noch immer nicht beglichen. Es kommt zum Krach. C. F. Vaucher quittiert den Job. Alfred Rasser dreht den Film ganz alleine zu Ende. «Eitelkeit des Schauspielers», kommentiert Hervé Dumont; in den Memoiren Vauchers heisst es: «Rasser selber übernahm darauf die Regie und rettete glücklicherweise als wundervoller Schauspieler den Film, der ihm als Regisseur misslang.»

René Lüchinger/Birgitta Willmann

«Rasser. Kabarett Schweiz», Christoph-Merian-Verlag; ab dem 7. November erhältlich.

«Rasser. Kabarett Schweiz», Christoph-Merian-Verlag; ab dem 7. November erhältlich.

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