Der 15. April 1984 ist ein Sonntag. Hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer freuen sich auf einen gemütlichen TV-Abend. Im Schweizer Fernsehen läuft seit Anfang Jahr jede Woche eine Folge der eigenproduzierten Serie «Motel» aus Egerkingen SO. Doch was diesmal nach dem Vorspann und dem Dire-Straits-Song «Telegraph Road» folgt, empfinden viele als skandalös und unmoralisch. In der Folge «Dr schön Paul» küssen sich erstmals zwei Männer zur besten Sendezeit.
Die Szene zwischen Peter Freiburghaus (1947–2022) als schwuler Chef de Service Paul Dutoit und Dani Levy (66) als Küchenlehrling Peperoni brächte das Publikum heute höchstens zum Schmunzeln. «Ich denke, es war damals wichtig, dass schwule Liebe oder Anmache im Haupt-Abendprogramm stattfand. Da hat ‹Motel› eine ganze Menge Themen stark bewegt», sagt Levy heute. 1984 steht Homosexualität durch die Aids-Epidemie zwar bereits im Fokus der Öffentlichkeit. Doch für die breite Masse kommt dieser Kuss eindeutig zu früh. Bereits während der Ausstrahlung melden sich erzürnte Zuschauer per Telefon, in den nächsten Tagen erhält SRF sackweise Beschwerdebriefe.
Die Wiederholung macht alles noch schlimmer
Doch der Sonntag ist erst der Auftakt zu einer «Affaire à suivre». Die umstrittene Episode wird nämlich wie alle anderen Anfang Woche wiederholt. Und zwar im Vorabendprogramm, wenn auch noch Kinder vor den Bildschirmen sitzen. In weiser Voraussicht wird die heikle Passage nach persönlicher Intervention des damaligen TV-Direktors Ulrich Kündig (88) zwar gekürzt. Was auch nicht allen passt und SRF Zensurvorwürfe einbringt. Zudem wirkt die Kussszene nach dem Schnitteingriff jetzt so, als hätte der Chef de Service seine Machtposition gegenüber dem Lehrling ausgenutzt und ihn zum Kuss gezwungen. Worauf sich die Schwulenverbände einschalten, die sich am Sonntag nach der Erstausstrahlung noch erfreut zeigten.
Zur allgemeinen Aufregung trägt auch Blick bei. Anfangs ist die Berichterstattung unter dem damaligen Chef Peter Uebersax (1925–2011) wohlwollend, wird zunehmend kritisch. Die Macher um Regisseur Thomas Hostettler (78) bemühen sich um Aktualität. Und dank der neuen Videotechnik sind die Abläufe kürzer. Gedreht wird die sonntägliche Episode jeweils unter der Woche, was kurzfristige Reaktionen auf Ereignisse zulässt. Doch die erzählten Geschichten aus dem «Nebelloch» werden als trist und trostlos empfunden und die Handlung als hölzern beurteilt. Für die Drehbücher sind bekannte Autoren wie Klaus Merz (78) oder Lukas Hartmann (79) verantwortlich, der heutige Ehemann von alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga (63). Die intensive Thematisierung von Blick und anderen Medien trägt stark dazu bei, dass die Serie dennoch zum Strassenfeger wird. 820'000 Zuschauer schalten durchschnittlich ein. Allerdings wohl auch, weil es 1984 noch an Programm-Alternativen mangelt und weil man sich insgeheim weitere Aufregungen erhofft.
Nach dem Kuss auch noch ein nackter Busen
«Motel» möchte gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen und ist der Zeit damit wohl etwas voraus. Ziel sei es nicht gewesen zu schockieren, sondern dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten, als zeitgenössische Chronik, die ein ganzes Jahr abbildet. «Wir wollten unser Land darstellen, wie es wirklich ist», sagt Silvia Jost (79), die dank ihrer Rolle im aktuellen Kinohit «Bon Schuur Ticino» gerade wieder im Gespräch ist. Sie ist es auch, die zwei Episoden nach dem «schönen Paul» in den nächsten Eklat bei «Motel» verwickelt ist. Als Gouvernante Erika Brunner kommt sie dem Küchenchef Koni Frei näher, gespielt von Jörg Schneider (1935–2015). In Folge 17 sind sie bereits ein Liebespaar und liegen zusammen im Bett. Nur ganz kurz verrutscht die Decke und entblösst Josts Busen.
Wieder schlägt allgemeine Empörung hoch. «Von heute aus gesehen war die Aufregung zwar lächerlich», sagt Jost. Doch der Druck von aussen, der im Fortgang der Dreharbeiten geherrscht habe, sei zeitweilig stark gewesen. «Aber wir haben als Team zusammengehalten.» Rückblickend sagt sie: «‹Motel› war stilbildend und sein Erfinder Thomas Hostettler ein Visionär.» SRF war damit sogar ein Jahr früher dran als die ARD mit der legendären «Lindenstrasse». Ganz sporadisch läuft «Motel» bei SRF noch als Reprise. Doch ist die Bildqualität für heutige Augen eher gewöhnungsbedürftig.