«Pension? Vielleicht in hundert Jahren!»
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Sie ist Mummenschanz:«Jeder von uns hat die gleiche verspielte Seele»

Die Mummenschanz-Macherin über Energie, Emotionen und Einsamkeit
«Pension? Vielleicht in hundert Jahren!»

Sie war erst 20, als sie Mummenschanz mitbegründete. Heute ist Floriana Frassetto die treibende Kraft der weltberühmten Theater Company – ab Dezember gehts auf Jubiläumstour.
Publiziert: 04.07.2021 um 21:32 Uhr
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Floriana Frassetto hat das Lächeln während der Pandemie nicht verloren.
Foto: STEFAN BOHRER
Katja Richard

Langweilig, müde oder gar Lust, sich zur Ruhe zu setzen? Das sind Fragen, die man der 70-jährigen Floriana Frassetto gar nicht stellen mag. Sie sprudelt über vor Lebendigkeit und ist auch nach 50 Jahren Mummenschanz voller Ideen und Tatendrang. Sie ist das letzte aktive Gründungsmitglied der weltberühmten Theatergesellschaft, derzeit bereitet sie die Jubiläumstournee vor – eine Reise zurück zu den Anfängen.

Über ein Jahr ohne Auftritte. Wie ist es Ihnen ergangen in der Pandemie?
Floriana Frassetto: Langweilig ist es mir zum Glück nie. Ich wohne und arbeite im gleichen Haus – jeden Tag bin ich dankbar für den vielen Platz, den ich hier habe. Es geht den ganzen Tag die Treppe rauf und runter, von der Wohnung ins Atelier und zurück. Ich bin vollauf mit Projekten beschäftigt und lebe hier in einer eigenen Welt. Es gibt immer was zu tun, wir hatten eine Anfrage für eine Show in China. Da habe ich sofort mit einer zweiten Anfertigung der Kostüme angefangen. Das ist eine Menge Arbeit – auch mit meiner Assistentin zusammen.

Sie sind ja ursprünglich Schneiderin?
Keine richtige. Das meiste habe ich mir zum grossen Teil selbst beigebracht. Ich habe schon als Mädchen gerne gebastelt, genäht und gestaltet. Als junge Frau war ich in Rom auf einer Modeakademie. Aber da war kein Platz für meine eigenen Ideen, der Direktorin war ich zu modern. Nach zwei Monaten sagte ich zu meiner Mutter, dass ich nicht mehr auf diese Schule will, sondern meine eigenen Visionen umsetzen möchte. Bei Mummenschanz konnte ich das – dort schrieb mir keiner was vor, und ich nähte Kostüme aus Plastiksäcken.

Zum ersten Mal begegnete Floriana Frassetto ihren Kollegen im November 1970 in Rom, zwei junge Schweizer Clowns mit dem Namen «Avant et Perdu»: Andres Bossard und Bernie Schürch. Man blieb in Kontakt und traf sich 1972 in Paris wieder.

Ich hatte gerade an der Lecoq-Schule die Ausbildung als Pantomimin angefangen, als mich die beiden anriefen. Ihr Beleuchter war ausgefallen, und ich sollte einspringen. Wahrscheinlich hatte ich mehr Lampenfieber hinter den Kulissen als sie auf der Bühne. Ich hatte aber auch die Löcher in ihren Kostümen entdeckt und geflickt, das ist die italienische Mama in mir. Wir haben gespürt, dass wir eine gute Gruppe sind. Es war aber nicht nur einfach, die beiden waren ein starkes Duo. Ich habe Femininität und Freigeist einbringen können und so meinen Platz gefunden.

Madame Mummenschanz

Floriana Frassetto (70), Tochter italienischer Einwanderer, wusste schon mit 17, dass sie auf die Bühne wollte, und besuchte unter anderem die Bewegungsschule Teatro Studio des Schweizers Roy Bosier. Mit Bernie Schürch (76) und Andres Bossard (1944–1992) gründet sie 1972 Mummenschanz. Das Trio erlebt einen rasanten Aufstieg, spielt am Broadway und tourt um die Welt. In dieser Zeit kommt Frassettos Tochter Melanya (32) zur Welt. Auf dem Gipfel des Erfolgs stirbt Bossard 1992 nach schwerer Krankheit. Danach spielt Mummenschanz als Duo weiter. Als sich Schürch 2012 von der Bühne verabschiedet, macht Frassetto mit jungen Künstlern weiter. Sie lebt in Altstätten SG.

Thomas Meier

Floriana Frassetto (70), Tochter italienischer Einwanderer, wusste schon mit 17, dass sie auf die Bühne wollte, und besuchte unter anderem die Bewegungsschule Teatro Studio des Schweizers Roy Bosier. Mit Bernie Schürch (76) und Andres Bossard (1944–1992) gründet sie 1972 Mummenschanz. Das Trio erlebt einen rasanten Aufstieg, spielt am Broadway und tourt um die Welt. In dieser Zeit kommt Frassettos Tochter Melanya (32) zur Welt. Auf dem Gipfel des Erfolgs stirbt Bossard 1992 nach schwerer Krankheit. Danach spielt Mummenschanz als Duo weiter. Als sich Schürch 2012 von der Bühne verabschiedet, macht Frassetto mit jungen Künstlern weiter. Sie lebt in Altstätten SG.

Dank Ihnen gibt es Mummenschanz nach 50 Jahren noch, was treibt Sie an?
Die Jahre sind so schnell vergangen. Wir sind neunmal um die Welt gereist – und am liebsten würde ich das gleich nochmals machen. Mummenschanz ist etwas Einmaliges. Es gab mir die Möglichkeit, so vielen unterschiedlichen Menschen zu begegnen, um überall das Gleiche zu entdecken. Jeder von uns hat die gleiche verspielte Seele, in jedem steckt ein Kind. Wir inspirieren die Leute dazu, diese Seite an sich zu entdecken, ihre Kreativität aufleben zu lassen. Das ist ein Geschenk für uns und das Publikum. Also warum sollte ich damit aufhören?

Für die Jubiläumstour werden Sie nächstes Jahr 100 Mal auf der Bühne stehen. Woher nehmen Sie die Energie?
Natürlich habe ich nicht mehr die gleiche Energie wie früher, aber sie ist noch da. So allein im Atelier ist das Üben manchmal etwas trocken und langweilig. Wenn wir nach dieser schwierigen Periode wieder miteinander agieren dürfen, kommt auch mehr Lebendigkeit in uns alle. Es wird Zeit, dass wir uns wieder berühren dürfen, aber wir müssen auch vorsichtig sein.

Wir haben uns daran gewöhnt, Masken zu tragen. Sie machen das bei Mummenschanz seit jeher. Gehen dabei nicht Emotionen verloren?
Man kann die medizinische Maske nicht mit unseren vergleichen. Unsere haben einen Ausdruck und sie dienen dazu, die innersten Emotionen, Charakter und Persönlichkeit zu zeigen, die sonst verborgen sind. Und wer sich in die Augen schaut, der kann darin so vieles lesen. Corona und Masken werden wir in unserem Stück tatsächlich aufnehmen. In welcher Form, das sind wir noch am Proben.

Haben Sie sich im letzten Jahr nie einsam gefühlt?
Ich kann auch mit meinen Schaumgummi-Masken reden, bloss antworten die nicht (lacht). Ich habe Glück: Meine Tochter wohnt nicht so weit weg. Und ich habe liebe Nachbarinnen. Weil ich selber nicht Auto fahre, nimmt mich eine von ihnen jede Woche zum Einkaufen mit. Auch wenn ich mit Maske im Lebensmittelgeschäft bin, werde ich manchmal als Frau Mummenschanz begrüsst. Das freut mich immer sehr. Aber ich vermisse die Tournee, die grossen Städte, meine Freunde in New York, Paris und Zürich. Letztere kommen mich bald besuchen, das gibt ein kleines Fest.

Ihre Tochter ist nicht in Ihre Fussstapfen als Künstlerin getreten?
Dafür begleitet sie mich bei anderen Projekten im Hintergrund. Das historische Museum St. Gallen plant zum Jubiläum von Mummenschanz eine Ausstellung. Meine Tochter hat mir den Raum gesichtet und die ganzen Objekte und Kostüme fotografiert. Ein wunderschönes Projekt, inzwischen ist fast alles verpackt und angeschrieben. Es ist eine riesige Ehre, dass wir ins Museum kommen. Mit Andres und Bernie waren wir oft in Museen, manchmal auch mit einer Performance.

Gibts das bei der Ausstellung auch?
Nein, dafür ist keine Zeit, wir sind ja auf Tournee. Aber es gibt eine Art Mummenschanz-Bühne für alle. Die Besucher können dort in das Rohr schlüpfen, das wir für unsere Nummer benützen, und selber performen.

Schlüpfen Sie selber noch ins Rohr?
Nein, ich mache nicht mehr alle Nummern, gewisse sind körperlich zu anstrengend. Aber die mit dem Toilettenpapier spiele ich noch immer sehr gerne, man könnte fast sagen, dass ich damit geboren bin. Andres und Bernie haben sie schon vorher gespielt, damals noch mit Worten. Jetzt versteht man sie überall auf der Welt.

Hand aufs Herz: Wann kommt für Frau Mummenschanz die Zeit, sich pensionieren zu lassen?
Pension? Was ist das? Keine Zeit und keine Lust. Die nächsten zwei bis drei Jahre sind voller Tourneen und Engagements. Vielleicht so in hundert Jahren!

Die Jubiläumstournee «50 Years» von Mummenschanz feiert am 10. Dezember 2021 Premiere in Zürich. Danach spielen Mummenschanz bis Ende Juni 2022 rund 100 Shows in 27 Orten in der ganzen Schweiz. Infos: www.mummenschanz.com / Tickets bei www.ticketcorner.ch


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