Wir schlendern mit Heinz Lüthi (83) durchs Zürcher Seefeld-Quartier. «Hier habe ich meine ersten zehn Lebensjahre verbracht», sagt der 1941 Geborene, der mit dem Cabaret Rotstift landesweit bekannt wurde, und zeigt zur Liegenschaft an der Seegartenstrasse 6. «Das waren Zeiten. Der See direkt vor der Haustür und die Badi Utoquai als Jugendrevier. Dementsprechend gross war das Drama, als wir 1951 nach Unterstrass zogen.»
Herr Lüthi, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hier stehen?
Heinz Lüthi: Dass sich erstaunlicherweise gar nicht dramatisch viel verändert hat. Auch unser früheres Wohnhaus befindet sich noch im Originalzustand. Und schon damals gab es sehr viel Autogewerbe. Nur die abenteuerlichen Gestalten sind verschwunden. Unweit von hier war zum Beispiel ein Zuhälter, der einen Cadillac besass, angeblich mit Türschlössern aus echtem Gold. Ich habe übrigens immer noch Kontakt zu meinem Jugendfreund Peter Meili. Erst vor kurzem haben wir hier ein Foto von damals nachgestellt.
Bevor Sie zum Cabaret Rotstift mit Werner von Aesch und Jürg Randegger stiessen, waren Sie als Lehrer tätig. Was sagen Sie zur aktuellen Debatte um die Noten? Verbandspräsidentin Dagmar Rösler möchte sie ja offenbar abschaffen ...
(Denkt kurz nach.) Mit Schulnoten setzt man etwas um, eine Leistung in eine Zahl. Warum das schlecht sein sollte und nicht mehr zeitgemäss, ist mir nicht klar. Noten sind eine Beurteilung des Schülers, nicht des Menschen, eine Beurteilung bestimmter Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Ich habe während meinen 33 Jahren als Lehrer schon immer auch auf andere Aspekte Wert gelegt. Wie verhalten sich die Kinder gegenüber ihren Kameraden? Sind sie neugierig? Sind sie hilfsbereit? Meine Beobachtungen dazu hielt ich in sprachlicher Form fest. Zusammen mit den Noten entstand dann ein Gesamtbild.
Weshalb wollten Sie überhaupt Lehrer werden?
Vererbt war der Wunsch sicher nicht. In meiner Familie gab es vor allem Polizisten. Mein Sohn ist Staatsanwalt. Sein Grossvater war Stadtpolizist, der wäre sehr stolz auf ihn. Ich half meinen Kameraden schon früh bei den Aufgaben und hatte offenbar ein Talent dafür. Ich war ein recht guter Schüler und später ein glücklicher Lehrer. Eine berufliche Alternative hätte es gegeben. In der Lehrerausbildung hatten wir einmal eine Übung, Lesen mit verteilten Rollen, Friedrich Schiller, «Wallenstein». Der Lehrer zitierte mich nach der Stunde zu ihm. «Lüthi, Sie haben das so gut gemacht. Möglicherweise steckt in Ihnen ein Schauspieler. In Zürich gibts die Schauspielschule, melden Sie sich doch dort einmal an.» Ich belegte dann zur Vorbereitung einen Abendkurs im Bühnenstudio. Aber dort hatte ich immer Krach mit dem bekannten Schauspieler Fred Tanner, der fürs Rollenstudium zuständig war. «Heinz, vergiss die Schauspielerei und werde lieber Gemeinderat in deiner Schulgemeinde», sagte er.
Dort wurde aber immerhin auch Ihr Cabaret-Talent entdeckt ...
Genau. Bei der missglückten Aufnahmeprüfung zur Schauspielschule nahm mich der damalige Direktor beiseite und sagte: «Für den Satz ‹Herr Graf, die Pferde sind gesattelt› könnte es am Schauspielhaus reichen, zu mehr nicht. Aber Sie haben da ein kabarettistisches, humoristisches Talent. Wir haben den Eindruck, dort sollten Sie sich weiterentwickeln.»
1977 ersetzten Sie beim Cabaret Rotstift Max Bürgi, der lustigerweise Ihr Unterstufenlehrer gewesen war. Wie war der Ruf der Formation damals?
Das Cabaret Rotstift hatte bereits einen hervorragenden Namen. Der Beachtungsgrad stieg dann noch einmal stark an, als wir 1977 zwei Jahre lang in der neuen Samstagabend-TV-Show «Zum doppelten Engel» auftreten konnten. Dazu kamen beim Fernsehen die «Samschtig-Jass»-Sketches. Jetzt ging es vollends durch die Decke. Eine klare Aufgabenteilung hatten wir übrigens nie. Werner war spezialisiert auf Musiknummern, Jürg beherrschte die rhythmischen Nummern. Und ich konnte skurrile Komik.
Waren Sie auch politisch?
Überhaupt nicht. Jürg schrieb zwar viele kritische Nummern. Aber die wurden nicht gross beachtet. Wenn man ins «Rotstift» ging, wollte man gediegene Chansons hören, eine schöne musikalische Nummer und Sketches zum Lachen, das war die allgemeine Erwartungslage. Ein pointiert politisches Programm hätte die Leute irritiert.
Konnten Sie persönlich zu allen Inhalten stehen?
Klar, das hätte sonst Mais gegeben. Nur an der «Skilift»-Nummer hatte ich wenig Freude. Einerseits reduzierten uns viele nur darauf. Und mir war der Text zu heftig, zu derb. «Häsch en Grind wie e VW-Türe – zum Driigingge», das geht eigentlich gar nicht. Die heutigen Comedians verfolge ich nicht mehr. Auch «Late Night Switzerland» habe ich noch nicht gesehen. Meine Frau und ich gehen früh zu Bett. Nur wenn Joachim Rittmeyer irgendwo auftritt, bin ich manchmal dabei. Und Divertimento mag ich. Jürg und ich gingen jeweils noch zusammen hin. Diese Ausflüge mit ihm fehlen mir sehr.
Es ist also nicht übertrieben, zu sagen, dass Sie zur damaligen Zeit Stars waren?
Das ist wohl nicht vermessen. Aber wir boten unseren Gästen auch etwas und hatten ein eigenes Orchester. Noch heute komme ich mit Menschen ins Gespräch, die in unseren Vorstellungen waren. Viele Leute haben mir auch kondoliert, beim Tod von Jürg im vergangenen Dezember. Die Verbundenheit mit dem Publikum hallt bis heute nach.
Heiratsanträge von Ihren weiblichen Fans gab es früher auch?
Nein, nein, meine Frau reichte mir (lacht).
Sind Sie heute noch glücklich verheiratet?
Ja, sehr, wir dürfen dieses Jahr goldene Hochzeit feiern. Im Ernst: Ohne meine Frau wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Gerade die Rotstift-Zeiten waren oft sehr anstrengend, und sie hat mir immer den Rücken freigehalten.
Zurück zum Cabaret: In welche Richtung würden Sie heute gehen?
Ich erlebe schon Situationen, aus denen ich gerne eine Nummer machen würde. Die laufenden Diskussionen um Sprachanpassungen würden sich anbieten. Oder die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung. Überspitzt gesagt habe ich das Gefühl, dass man schon bald am Telefon Anweisungen dafür bekommt, wie man sich selber den Blinddarm rausnehmen kann. Aber ich bin nun 83 und möchte kein Cabaret mehr machen.
Dafür ist die Literatur zentral geworden. Wir haben gezählt und sind auf 16 Publikationen gekommen ...
Ja, das ist richtig. Die Anfänge reichen weit zurück. Mein allererstes Buch kam 1971 heraus, Kurzgeschichten und Gedichte. Es wurde von Ernst Halter betreut, dem Mann der berühmten Lyrikerin Erika Burkart. Ich schrieb ein Buch über Rosa Schibli, die legendäre Altberg-Wirtin. Drei Bände zu den humoristischen Erlebnissen mit meinem Freund Heini, zusammengefasst als Best-of im Werk «Pannen, Pleiten, Pointen». Eine Limmattaler Chronik und ein Buch über einen mysteriösen Kriminalfall im Val Lumnezia, wo wir seit 40 Jahren ein Ferienhäuschen haben. Und soeben habe ich den zweiten Band von «Strömungen» über die Entwicklungen der Region Zürich von 1930 bis 1971 vollendet.
Mit der Eigendisziplin hatten Sie nie Mühe?
Nein, wenn ich schreibe, dann gerne im Val Lumnezia. Am Montag fahre ich jeweils hin und arbeite bis Freitag, bevor ich fürs Wochenende zurückreise.
Aus welcher literarischen Tradition kommen Sie?
Meine Vorbilder sind Kurt Guggenheim und Meinrad Inglin. Gerade den Zürich-Epochenroman «Alles in Allem» von Guggenheim finde ich grandios. Und nun bin ich bereits am nächsten Projekt. Joseph Roth schrieb 1933 innerhalb von drei Monaten in Rapperswil den Roman «Tarabas» um einen Attentäter und Mörder während der Russischen Revolution. Nur schon dieser Name ist mysteriös, ein eigenartiges, ungemein faszinierendes Werk. Ich werde mich schon bald auf Spurensuche machen.
Haben Sie keine Lust, endlich etwas kürzerzutreten?
Mir geht es für mein Alter gesehen prächtig. Wenn es heute schön gewesen wäre, wäre ich von Richterswil mit dem Velo in die Stadt gekommen. Der Rücken ist meine einzige Problemzone. Und wenn ich gar nichts mache, kann ich genauso gut gleich in der «Kiste» Platz nehmen. Was andere in meinem Alter unternehmen, wandern oder Golf spielen, interessiert mich wenig. Es ist eigenartig: Im Gegensatz zu meinem Vater war ich immer Einzelgänger. Im Cabaret-Trio war es mir zwar wohl, aber ich war nie in einem Verein oder Klub. Ausser im Vogelschutzverein Limmattal rechtes Ufer, aber auch dort nur Passivmitglied. Ich gehe fischen und Pilze sammeln, wenn es der Rücken zulässt, und ich habe ein Boot auf dem See. Und im Winter schreibe ich.
Das Schreiben hält Sie also jung?
Schreiben ist meine Überlebenshilfe, mein Lebenselixier, ohne Schreiben würde ich verkümmern. Ich bin sehr glücklich dabei. Und es hat den Vorteil, dass ich immer wieder nach Wörtern suchen muss. Das hält mich gesund (tippt sich dabei an den Kopf).
Heinz Lüthi wurde 1941 als Einzelkind geboren und wuchs als Sohn eines Polizisten im Zürcher Seefeld-Quartier und später in Unterstrass auf. Er unterrichtete als Primarlehrer während 33 Jahren in Weiningen ZH. Über den Lehrerberuf fand Lüthi zum Cabaret Rotstift. 1977 stiess er zu Jürg Randegger (1935–2023) und Gründungsmitglied Werner von Aesch (1927–2008) und war mit ihnen bis zur letzten Vorstellung 2002 als Trio unterwegs. Seit den frühen 1970er-Jahren ist er auch Buchautor. Lüthi ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt heute in Richterswil ZH.
Heinz Lüthi wurde 1941 als Einzelkind geboren und wuchs als Sohn eines Polizisten im Zürcher Seefeld-Quartier und später in Unterstrass auf. Er unterrichtete als Primarlehrer während 33 Jahren in Weiningen ZH. Über den Lehrerberuf fand Lüthi zum Cabaret Rotstift. 1977 stiess er zu Jürg Randegger (1935–2023) und Gründungsmitglied Werner von Aesch (1927–2008) und war mit ihnen bis zur letzten Vorstellung 2002 als Trio unterwegs. Seit den frühen 1970er-Jahren ist er auch Buchautor. Lüthi ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt heute in Richterswil ZH.
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