Das gab es wohl noch nie: Ein fast unbekannter Musiker, der mit seinem Album von null auf Platz eins der britischen Charts einsteigt. Ohne dass ein Plattenlabel für ihn Werbung machen würde oder er einen Plattenvertrag hätte. Ausserdem einer, der hauptsächlich vom Dauer-Krankenbett aus arbeitet, also schreibt, singt, komponiert, Musikvideos plant. Wenn er kann.
Einer, der wegen seiner Krankheit nicht tourt oder promotet. Und erst noch nicht auf Masse und Billigpop, sondern auf Qualität und Komplexität setzt: Ren Gill (33), der unter dem schlichten Namen Ren arbeitet, rappt wie Eminem (51) – mit einem vergleichbaren Flow, einer poetischen Kraft, die bei jedem Lyrikwettbewerb abräumen würde – und der noch nicht einmal vor opernartigen Gesangseinsätzen zurückzuschreckt wie seinerzeit Queen-Ausnahmesänger Freddie Mercury (1946–1991).
Auch seine Themen sind eigentlich nicht massentauglich: Ren behandelt in seinen Songs die seiner körperlichen Erkrankung geschuldeten psychischen Leiden («Hi Ren», 20 Millionen Views auf Youtube), den Suizid seines besten Freundes im Jugendalter («Suicide») – Ren erhielt eine Abschiedsnachricht, rannte los und kam fünf Minuten nach dem Brückensprung seines Kumpels an – oder die generelle Misere und trotzige Hoffnung der Jugend im sogenannten Broken Britain, dem von den Tories kaputtgesparten und von Brexit gebeutelten urbanen England.
Menschen weinen, wenn sie seine Videos sehen
Also eigentlich Gift für Pop, der oft belanglose Inhalte zelebriert, oder für Rap, bei dem es normalerweise in den Texten eher darum geht, wer am meisten Geld, das längste Schnäbi, die dicksten Knarren, die fettesten Wagen oder die meisten Frauen hat.
Bei Ren hingegen beginnen die Menschen vor Ergriffenheit zu weinen, wie unzählige sogenannte Reaktionsvideos (Menschen schauen sich auf Youtube etwas an, filmen ihre Reaktion und stellen das wiederum auf Youtube) zu «Hi Ren» zeigen. Der Song zeigt schonungslos, wie komplett einen der eigene innere Kritiker im Leben aushebeln kann.
Vom walisischen Kaff nach London …
Ren wächst im kleinen Dorf Dwyran (knapp 600 Einwohner) auf der Insel Anglesey in Wales auf. Seit früher Kindheit will er nichts anders als Musiker werden, er bringt sich das Gitarrespielen bei, indem er Jimi-Hendrix-Videos auf Youtube verlangsamt, um sie nachspielen zu lernen. Mit zwölf Jahren verkauft er bereits selbst aufgenommene CDs mit eigenen Songs in seinem Umfeld.
Später zieht er nach Bath, um Musik zu studieren, dann nach Brighton, wo er Bands gründet und sein Geld als Strassenmusiker verdient. Es folgt die klassische Entdeckungsgeschichte: Produzent unter den Zuschauern, Einladung ins Plattenstudio, Vertrag mit einem Musikriesen: 2010 nimmt Sony Ren unter Vertrag. Er zieht nach London, um sein erstes Album aufzunehmen. Superstartum scheint vorprogrammiert.
… und zurück ins Bett
Doch Ren kann bald nicht mehr: Er ist 19 und dauermüde, hat keine Energie, muss die Arbeit an seinem Album unterbrechen und nach Wales zu seinen Eltern zurückziehen. Dort wird er so krank, dass er im Schnitt 23 Stunden am Tag liegt. Sony lässt ihn fallen, und Rens Odyssee bei Ärzten beginnt. Die notorisch überarbeiteten und schlecht bezahlten Ärzte des maroden britischen Gesundheitsdiensts NHS diagnostizieren über Jahre hinweg fälschlicherweise chronisches Fatigue-Syndrom, Depressionen und bipolare Störung und verschreiben starke Medikamente.
Doch Ren geht es stets schlechter. Zu den körperlichen Symptomen wie Dauererschöpfung, ständiger Übelkeit, Entzündungen und schmerzhafter Arthrose kommen nun auch neurologische und psychische Nebenwirkungen wie Psychosen und Wahnvorstellungen.
Erst nachdem Freunde ein Crowdfunding starten, wendet sich Rens Geschichte zum Besseren. Mit dem so gesammelten Geld kann er zu einem Spezialisten nach Belgien fahren, der bei ihm im Alter von 25 Jahren korrekt schwere, chronische Lyme-Borreliose diagnostiziert. Die von Zecken übertragene bakterielle Krankheit kann, unerkannt und unbehandelt, nach Jahren Gehirn, Nervensystem und Gelenke befallen und zu schweren Folgeerkrankungen führen. Die nächste Hiobsbotschaft: In England gibt es kaum Spezialisten für komplexe Lyme-Borreliose-Folgeerkrankungen.
Erneut sammeln Rens Freunde Geld. Ren kann sich dank Freunden und Fans – er videobloggt, wenn er genug Energie hat – in Los Angeles einer Stammzellentransplantation unterziehen, die ihm nach eigenen Aussagen das Leben rettet. Ein Jahr Therapie in einer kanadischen Spezialklinik folgt – mit täglichen Infusionen, häufigen MRI-Scans und manchmal gar Operationen.
Ren hat ganz allein die Marketingmaschinen von Rick Astley und Drake abgetrocknet
Seither hat er wieder knapp genug Energie, um seine Musik aufzunehmen und zu veröffentlichen und manchmal sogar ein kurzes Konzert zu geben. Auf Youtube schafft er es so, in kurzer Zeit Millionen Follower zu bekommen. Das verdiente Geld steckt er in die Entwicklung seines ehrlichen neuen Albums. Mit Erfolg: Das von A bis Z sozusagen selbst gebastelte Album «Sick Boi» ist dank seiner Fangemeinde – und natürlich dank seiner überragenden Qualität – letztes Wochenende auf Platz eins der britischen Charts eingestiegen.
Ren hat damit das Comeback eines britischen Popgiganten geschlagen: Rick Astley (57) liegt um 6000 weniger verkaufte Alben abgeschlagen hinter ihm auf Platz zwei. Auf Platz drei: Rap-Übergrösse Drake (37). Ren Gill hat übrigens von Calgary aus gefeiert: zwischen zwei Infusionen.
Ren: «Sick Boi», jetzt auf Platz eins der britischen Albumcharts.