Der Titel wirkt so seltsam wie faszinierend: «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» heisst der 2012 erschienene Roman von Thomas Meyer (46) über die Liebeswirren des orthodoxen Juden Mordechai Wolkenbruch. Er wurde zum Überraschungserfolg und die Verfilmung von Michael Steiner (51) 2018 zum Kinohit. Anlässlich der heutigen TV-Premiere (SRF 1, 20.05 Uhr) lohnt sich ein Blick auf die Häufung ähnlicher Geschichten.
Jüngstes Beispiel ist die Anfang Jahr erschienene Netflix-Serie «Unorthodox». Maria Schrader (55) erhielt dafür als erste deutsche Regisseurin einen Emmy. Drehbuchautorin Anna Winger (50) sagt: «Wir wollten auf keinen Fall diese spezifische Gemeinde kritisieren. Überall auf der Welt suchen junge Menschen nach ihrer Identität, unabhängig von den Erwartungen ihrer Eltern und dem Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind, das hat etwas sehr Universelles.»
«Srugim» und «Shtisel» als Vorreiter
Dass solche Geschichten ankommen, lässt sich seit rund zehn Jahren beobachten. Bahnbrechend war die israelische Produktion «Srugim» zwischen 2008 und 2012. Und «Shtisel» war 2013 zuerst in Israel ein TV-Quotenrenner, bevor die Serie weltweit einschlug. Ein US-Remake von «Friends»-Erfinderin Marta Kauffman (64) soll folgen. Und das Drama «Ungehorsam» von 2017 mit Rachel Weisz (50) und Rachel McAdams (41) nahm sich sogar der gleichgeschlechtlichen Liebe an.
Liebe fesselt immer. «Boy meets girl», hat Regie-Legende Billy Wilder (1906–2002) das Rezept für den perfekten Film einst auf den Punkt gebracht. Ein wichtiger Grund für den Boom ist auch der erhöhte Stoffbedarf der Streaming-Plattformen. So gelangen Lebenswelten in den Fokus, die bisher als zu sperrig galten für ein breites Publikum, durch ihre Andersartigkeit jedoch Neugier wecken. Hinzu kommt, dass sich Israel bis zum Corona-Stopp zum Topziel ausländischer Touristen mauserte. 2019 resultierte mit 4,55 Millionen Besuchern ein neuer Rekord, darunter sehr viele jüngere, medienaffine Menschen.
Neben Liebe ziehen Geschichte und Tradition
«Seit den letzten zehn Jahren sind muslimische, indische, jüdische und andere Serien weltweit erfolgreich», meint «Tachles»-Chefredaktor Yves Kugelmann (49). Der Erfolg von «Wolkenbruch» und anderen Werken sei also kein rein «jüdisches Phänomen». Regisseur Micha Lewinsky (47) sagt: «Das Schöne an Filmen und Serien ist ja, dass wir durch die Fiktion die Möglichkeit haben, eine unbekannte Welt kennenzulernen. Gerade weil es bei den orthodoxen Juden viele Regeln und Gebote gibt, ist da für die Figuren auch Dramatik und Fallhöhe gegeben.»
Aktuelle Werke mit jüdischem Kontext drehen sich aber nicht ausschliesslich um Liebe und orthodoxe Milieus. Beispiele sind die umstrittene Nazijäger-Serie «Hunters» mit Al Pacino (80) oder die Serie «The Marvelous Mrs. Maisel», die auf der Tradition von jüdischen Komikern basiert. Pierre Rothschild (68), der mehr als drei Jahrzehnte an der Seite von Oscar-Preisträger Arthur Cohn arbeitete, sagt: «Da sehr viele Comedians, Schriftsteller und Regisseure weltweit jüdisch sind, hat man eine gute Grundlage. Ob Steven Spielberg, Woody Allen, Sacha Baron Cohen oder Mel Brooks – sie kennen die jüdische Welt.»