Es ist eine Szene, an die sich Daniela Widmer (heute 37) nur zu gut erinnern kann: Am 17. März 2012 landen sie und ihr damaliger Freund David Och (40) in Zürich am Flughafen. Die Erleichterung steht den beiden ins Gesicht geschrieben, aber da sind auch Erschöpfung und Verstörtheit. Hinter dem Backpacker-Paar liegen über acht Monate Geiselhaft, welche die Schweiz und die internationale Diplomatie in Atem gehalten hat.
Im Sommer 2011 reisten sie im Kleinbus nach Indien. Auf dem Rückweg durch Pakistan wurden die beiden von Taliban verschleppt. Der Empfang in ihrer Heimat verläuft jedoch anders als erwartet: An der Pressekonferenz gibt es kaum Mitgefühl, dafür viel Kritik, niemand will glauben, dass ihnen die abenteuerliche Flucht aus dem Versteck ihrer Kidnapper auf eigene Faust gelungen ist.
Die ehemalige Geisel erlebt die Szenerie nochmals – als Statistin
Acht Jahre später durchlebt Widmer die Szenerie noch einmal. Sie spielt beim Dreh von Michael Steiner (50) eine Statistin. Er verfilmt das Geiseldrama auf der Vorlage des von ihr und Och gemeinsam mit einem Krimiautor verfassten Buchs «Und morgen seid ihr tot». Für den Regisseur von «Wolkenbruch» und «Grounding» bislang seine grösste Herausforderung und zugleich ein Projekt, das ihn persönlich bewegt. Schon als er das erste Mal ein Interview der erlösten Geiseln las, war für ihn klar, dass er ihre Geschichte verfilmen will. «Daniela und David sind für mich Helden, weil sie sich trotz der Bedrohung immer umsichtig verhalten haben, selbst bei ihrer Flucht», sagt Steiner. Ihm ist bewusst, dass in den meisten Schweizer Köpfen eine andere Version der Geschichte steckt. Aber ihm geht es vor allem um eines: «Wir urteilen oft vorschnell, ohne genau hinzuschauen. Dabei tun wir Menschen unrecht. Und diese Geschichte steht exemplarisch dafür.»
Berührende Begegnung von Opfer und Darstellern
Bei unserem Besuch ist es das erste Mal, dass das Entführungsopfer Daniela Widmer am Filmset ist. Der Drehtag ermöglicht ihr einen Perspektivenwechsel. Sie verfolgt das damals Geschehene als Statistin. «Es hat etwas Unwirkliches, wenn da jemand mit deinem Namen sitzt und du beobachtest, wie ein Teil des eigenen Lebens verfilmt wird», sagt sie. Gespielt wird sie von Morgane Ferru (29), in die Haut von David Och schlüpft Sven Schelker (30). Die Begegnung mit den Darstellern berührt Widmer sichtlich: «Ich kann die beiden gut annehmen, Morgane wird der Rolle gerecht. Auch wenn ein Film die Realität nie ganz zeigen kann, aber das ist so, und ich kann das akzeptieren.»
Zwischen Todesangst und Hoffnungslosigkeit
Realität ist, was Daniela Widmer und David Och unzählige Tage zwischen Todesangst, Drohungen, Krankheiten, Hitze, Hunger, Durst und Hoffnungslosigkeit verbracht haben. Nach ihrer Entführung müssen sie nächtelang durch die Wüste und Gebirge wandern, bis sie in der Taliban-Hochburg in Waziristan ankommen. Misshandelt werden sie zwar nicht, aber sie leben unter schlimmsten hygienischen Bedingungen, David Och erkrankt zweimal an Malaria und nimmt 22 Kilo ab. Zu der ständigen Angst vor den Entführern kommen die nächtlichen Drohnen-Angriffe der Amerikaner. Das Lösegeld steigt auf 50 Millionen US-Dollar, die Verhandlungen mit der Task-Force scheinen aussichtslos.
Nach 259 Tagen gelingt es den beiden zu entkommen – nach akribischer Vorbereitung: Sie haben Proviant gesammelt, Türen geölt und nutzen die Dunkelheit einer Neumondnacht. So gelangen sie zu einem Stützpunkt der pakistanischen Armee. Obwohl laut dem damaligen Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter (60) kein Lösegeld an die Taliban geflossen ist, wird diese Version der Flucht von Experten angezweifelt. Der Fall löste in der Schweiz zudem eine Polemik aus – über die Sorglosigkeit, durch ein Krisengebiet zu reisen, und darüber, wer die Kosten dafür tragen soll.
Die Meinung über die Flucht war längst gemacht
Dass der Empfang in der Schweiz nicht einfach werden würde, das ahnte Daniela Widmer bereits auf der Botschaft in Pakistan, nachdem sie einen Beitrag der Nachrichtensendung «10 vor 10» gesehen hatte. «Die Meinung, dass die Flucht so nicht stattgefunden hat, war bereits vor unserer Rückkehr gemacht. Das war sehr schmerzhaft – und tut noch immer weh.» Die Entführten wurden damit gleich doppelt zu Opfern. Daniela Widmer hat inzwischen ein neues Leben begonnen, ist in einer neuen Beziehung und Mutter. Letztes Jahr wurde sie zudem als Gemeindeammann von Bellikon AG gewählt.
Ob sie dem Filmdreh heute nochmals zustimmen würde, darüber ist sie sich nicht sicher: «Wir haben die Rechte schon früh abgetreten. Eigentlich war Ruhe eingekehrt – und jetzt kommt nochmals alles hoch. Aber ich vertraue Michael Steiner voll und ganz und zweifle nicht, dass er unsere Geschichte gut umsetzt. » Sie sieht den Filmdreh auch als Prozess, mit dem dieses schwierige Kapitel ihres Lebens zu einem Abschluss kommt. Und es ist, genau wie das Buch, eine Möglichkeit, ihre Sicht auf die Dinge zu zeigen. «Wir kennen die Wahrheit, aber beweisen können wir sie nicht.» Ins Kino kommt der Film voraussichtlich im Herbst 2021.
Heute um 12.30 Uhr bei Blick TV: Regisseur Michael Steiner zu seinem Filmprojekt