Am 1. Dezember 2023 gehen in Gelsenkirchen (D) die Lichter aus. Nicht, weil der FC Schalke 04 an diesem Abend in der örtlichen Arena gegen den endgültigen Absturz in die Bedeutungslosigkeit spielt – sondern weil die Scheinwerfer vom Chor ablenken würden, der sich kurz vor 20.30 Uhr am Mittelkreis positioniert. «Glück auf, Glück auf. Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezünd't», singen etwa 20 in Schwarz gekleidete Männer bedächtig. Und 62'000 nicht mehr ganz nüchterne Kehlen stimmen mit rührender Inbrunst ein. Auch ich bin im Stadion – und singe die Bergarbeiter-Hymne mit; mein Opa (92) brachte sie mir einst bei. Auf dem riesigen Videowürfel sind währenddessen Arbeiter mit russigen Gesichtern zu sehen.
Dass das «Steigerlied» an diesem kalten Dezemberabend nicht ab Band läuft, sondern vom Ruhrkohle-Chor gesungen wird, liegt an St. Barbara, der Schutzbefohlenen der Bergleute, der man an diesem Tag gedenkt. Minenarbeiter gründeten den Fussballverein Schalke vor genau 120 Jahren. Bloss: Der letzte Schacht im Ruhrgebiet schloss bereits vor knapp sechs Jahren, seit den 1970er-Jahren befindet sich die Region in einem stetigen sozialen und wirtschaftlichen Niedergang – die Städte weisen die höchsten Arbeitslosenquoten des Landes auf.
Fussballklubs, Souvenirshops und der Tourismusverband versuchen, die Erinnerung an die Tage «unter Tage» am Leben zu halten – und damit Kohle zu machen. Und trotzdem: Die Folklore hat für mich seit jeher etwas Magisches. Als Enkel eines Bergmanns fühlte ich mich der Arbeiterschicht, die gegen staatliche Regulierung rebelliert, verbunden. Auf mein Handgelenk liess ich mir Hammer und Schlägel, das Wappen der Bergleute, tätowieren. Heute sehe ich die Sache anders – und kritischer. Ein neuer Dokumentarfilm hat mein Bild bestärkt.
Der Antichrist der CO²-Neutralität
«Wir waren Kumpel», eine Co-Produktion des SRF, beleuchtet den Spagat zwischen Folklore und Zukunft eindrucksvoll. Der Luzerner Christian Johannes Koch (38) und sein deutscher Kollege Jonas Matauschek (37) begleiteten ab Ende 2018 Bergmänner und -frauen zu ihrer letzten Schicht sowie durch die Zeit danach – und lassen ihr Publikum dabei in die von der Kohle geschwärzten Gesichter der Protagonisten blicken. Kurz nach Antritt ihres diktierten Ruhestands werden sie Zeugen der «Fridays for Future»-Bewegung, die zeitlich mit den letzten Zechenschliessungen einhergeht. Während die ersten Bergwerke in den 1970er-Jahren noch wegen der billigeren Kohle-Konkurrenz aus China den Betrieb auflösen mussten, war die Aufgabe der letzten Standorte die logische Schlussfolgerung aus den hochgesteckten Klimazielen der Bundesrepublik. Eine Zeche ist kein Ponyhof – und der Antichrist der CO²-Neutralität.
Den Regisseuren gelingt es hervorragend, aufzuzeigen, dass der Grat zwischen klimapolitischer Räson und dem Aufbruch eines über Jahrzehnte gewachsenen sozialen Kitts ein schmaler ist. Während sich Schalke-Fans in Gelsenkirchen (und Zürich) trotz des sportlichen Niedergangs aber an die einzigartige Bergbau-Historie ihres Vereins klammern und mithilfe von Nostalgie durch die Bundesliga-Woche retten können, ist das Bild des Regie-Duos ein viel realeres – und dramatischeres: Männer und Frauen, die über Jahrzehnte gemeinsam Hunderte Meter in die Tiefe gefahren sind und sich tagtäglich aufeinander verlassen mussten, werden plötzlich aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. «Leute, die man jeden Tag zwölf Stunden gesehen hat, sind plötzlich weg», sagt einer der Protagonisten – und er bringt bei mir in Bezug auf meine Bergmannsromantik einen Stein ins Rollen: «Ich brauch auch keine Glückwünsche und irgendwelche Loblieder auf die Bergleute später.»
«Die Zeche ist mein zweites Zuhause»
Vielleicht ist der Film auch gerade deshalb so wichtig, weil er ein so ungeschöntes Licht auf das Leben unter Tage wirft. Weil er die engen Stollen genauso zeigt, wie er die Geschichten seiner Protagonisten erzählt. Zum Beispiel das Schicksal von Martina, die von ihrer Geschlechtsanpassung zur Frau berichtet. Während sie durch die Grube läuft, erinnert sie sich: «Im Nachhinein wäre ich lieber Friseuse oder Make-up-Artist geworden. Wär ich damals bei meinen Eltern damit um die Ecke gekommen, hätten die gesagt: ‹Sag mal, hast du eigentlich einen am Sträusschen?›»
Ebenso berührend ist das Los von Kirishanthan, der aus Sri Lanka vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland flüchtete – und in der Kohle seine Heimat fand: «Die Zeche ist mein zweites Zuhause. Mein Deutschland ist die Zeche.» Der Zukunft verschliesst sich niemand der Protagonisten, dennoch zeigt «Wir waren Kumpel», dass diese vor allem mit Unsicherheit anstatt Vorfreude verbunden ist. Die beiden Regisseure drängen ihren Zuschauern nicht ihre eigene Meinung auf, sie spielen nicht die Moralapostel. Das gibt es selten.
«Das wird noch schwer für euch»
Nach dem Film wird mir klar: Das Schicksal der Protagonisten zu romantisieren, wäre vermessen, dafür ist es zu tragisch. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich mit meinem Opa nach wie vor mit kindischer Freude über die alten Zeiten spreche. Er wurde mit Mitte 50 frühpensioniert, das ist bei Bergleuten üblich. «Ich lebe gut von der Rente», sagt er mir auch am 2. Dezember, als ich einen Tag nach dem Fussballspiel bei ihm aufkreuze und aus seinem Küchenfenster auf die Hochöfen auf der anderen Seite des Maisfelds blicke.
Ich frage ihn immer wieder, wie das damals eigentlich war «unter Tage». Dann erzählt er von Doppelschichten und davon, «dass wir ja eigentlich immer ganz gut gelebt haben». Einen ähnlichen Berufsstolz, wie ihn die Film-Kumpel versprühen, hatte er nie, er habe einfach seine Arbeit gemacht. Auch Zukunftsängste kennt er mit 92 Jahren nicht mehr, er macht sich eher Sorgen, «dass alles teurer wird. Das wird noch schwer für euch». Trotzdem scheint ihn meine Faszination für die Bergmänner und -frauen zu ehren – auch, weil es unsere Familiengeschichte ist. «Ich finde es schön, dass du dich so sehr dafür begeisterst», strahlt er und blickt auf mein Tattoo.