An Sandra Hüller (45) führt derzeit kein Weg vorbei. Mit «Anatomie eines Falls» der Französin Justine Triet (45) ist sie für die Nacht zum 11. März als beste Hauptdarstellerin für den Oscar nominiert. Letztmals triumphierte mit Luise Rainer (1910–2014) im Jahr 1937 (!) eine deutsche Schauspielerin in dieser Kategorie.
Hinzu kommt Hüllers beklemmende Darstellung der Frau von Auschwitz-Lagerleiter Rudolf Höss (1901–1947) im eben angelaufenen Film «The Zone of Interest». Das Werk des Briten Jonathan Glazer (58) geht in fünf Oscar-Kategorien ins Rennen, darunter als bester Film und für die beste Regie. «Anatomie eines Falls», in dem Hüller die des Mordes an ihrem Ehemann verdächtigte Schriftstellerin Sandra Voyter spielt, kommt gleichfalls auf fünf Nominationen.
Der Hüller-Blick
Einen gemeinsamen Nenner haben die meisten ihrer Auftritte: Hüller spielt oft Personen, mit denen die Zuschauenden nicht tauschen möchten. «Ich liebe Figuren, die eine Ambivalenz widerspiegeln», beschreibt es Hüller im US-Magazin «Variety». Solche Charaktere derart darzustellen, dass das Publikum sie dennoch nicht vollkommen abstösst, bedarf grosser Meisterschaft. Nicht der Glanz steht im Zentrum ihrer Arbeit, sondern das Scheitern. «Jene Dinge, die eine Figur nicht kann, machen sie für mich zur Figur.»
Den eigentlichen Hüller-Blick gibt es nicht. Oder wenn, dann ist er aus vielen kleineren Regungen zusammengesetzt, wozu auch ihr eigentümliches Lächeln gehört. Ihr Gesicht wirkt nie perfekt oder maskenhaft wie bei anderen Schauspielerinnen ihres Alters und Niveaus. Es ist ein Gesicht, das sich nicht einfach einprägen lässt, weil ihm offenkundige Merkmale abgehen. Was den Vorteil hat, dass es die Zuschauenden selten langweilt – und entscheidend zu Hüllers Aufstieg beiträgt.
Heute mit Kind und Partner in Leipzig (D) lebend, war Hüller elf Jahre alt, als die Mauer fiel. Ihre künstlerische Prägung findet jenseits des Kalten Krieges im wilden Berlin der 1990er-Jahre statt. Von 1996 bis 2000 absolviert sie dort die Schauspielhochschule Ernst Busch. Als Kind sitzt sie sehr viel vor dem Fernseher und regt sich darüber auf, wenn ihr jemand als nicht glaubwürdig erscheint. So entsteht der dringende Wunsch, selber auf die Bühne zu treten und es besser zu machen: «Mir ist es lange schwergefallen, die Schauspielerei als Kunst zu begreifen. Ich habe sie eher als Handwerk begriffen, weil es auch ein sehr praktischer Beruf ist, der viel mit Lernen und Vorbereitung zu tun hat.»
Hüller und die Schweiz
Aus ihrer Biografie eine minutiöse Karriereplanung herauszulesen, wäre mutig. Einen wichtigen Grundstein legt sie in der Schweiz. Nach Abschluss ihrer Ausbildung ist sie von 2002 bis 2006 am Theater Basel engagiert. Aktuell kriselt es dort zwar schwer. Um die Jahrtausendwende hat das Haus dank Schauspieldirektor Stefan Bachmann (57) und dem damaligen Ensemble jedoch einen Lauf und geniesst internationale Ausstrahlung. 2003 wird Hüller von der Branchenzeitschrift «Theater heute» zur «Nachwuchsschauspielerin des Jahres» gekürt – ihre erste bedeutende Auszeichnung.
Parallel dazu etabliert sie sich in der Filmszene. Ihren ersten Kinoerfolg feiert sie 2006. In «Requiem» von Hans-Christian Schmid verkörpert sie eine angeblich vom Teufel besessene junge Frau und gewinnt an der Berlinale den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Dass ihr auch viereinhalb Minuten genügen, um eine Geschichte zu skizzieren, und dass Leistungen in Musikvideos oft sträflich unterschätzt werden, zeigt sie 2008 im Song «Where in this World» der legendären deutschen Indierocker The Notwist. Musik ist ihr überhaupt sehr nahe. 2020 feiert sie mit dem Album «Be Your Own Prince» ihr eigenes Gesangsdebüt.
Hüller und die Kaiserin
Ausgewählten Exponenten hält sie schon länger die Treue, so dem Regie-Drehbuch-Duo Frauke Finsterwalder (49) und Christian Kracht (57). 2013 entsteht «Finsterworld», zehn Jahre später «Sisi & Ich» mit Hüller als ungarischer Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich. Sie begibt sich oft und gern in extreme Lagen, was nicht nur «Anatomie eines Falls» und «The Zone of Interest» zeigen.
Spätestens als Unternehmensberaterin Ines Conradi in «Toni Erdmann» wird sie 2016 auch einem Publikum abseits von Arthouse-Produktionen bekannt. Der Film der deutschen Regisseurin Maren Ade (47) figuriert in der Oscar-Kategorie «Bester fremdsprachiger Film», Hüller gewinnt den europäischen Filmpreis. Die höchst skurrile 15-minütige Party-Nacktszene bleibt unvergessen. Auch das komische Fach ist ihr nicht fremd. Das beweist sie in «Fack ju Göhte 3» oder der Comedy-Serie «Der Tatortreiniger».
Hüller und die Zukunft
Ein Jungstar ist Hüller längst nicht mehr. Bald wird, so brutal sind die Gesetzmässigkeiten dieser Branche gerade bei Frauen, das Alter zum Thema. «Wache ich eines Morgens auf und denke, ich muss jetzt doch mal zum Arzt?», hat sie sich kürzlich zum Thema Schönheitsoperationen geäussert. «Dass ich Veränderungen an meinem Körper, an meiner Kapazität und an meiner Stressresistenz wahrnehme, ist vollkommen klar.»
Ruhm und Schein vergehen, das ist ihr bewusst. «Darin liegt auch eine ungeheure Traurigkeit. Genauso wird sich das nicht wiederholen, diese Gleichzeitigkeit und Qualität dieser beiden Filme jetzt», sagt sie. Wie sie auf einen Oscar-Gewinn reagieren würde, weiss sie noch nicht. Die Konkurrenz ist enorm stark, ein Sieg wäre epochal. Nebst Hüller stehen Emma Stone (35), Annette Bening (65), Carey Mulligan (38) und Lily Gladstone (37) zur Wahl. Stone ist Top-Favoritin. Die Schauspielerei diene ihr grundsätzlich zur Angstüberwindung. «Deshalb schaue ich in jedem Fall gelassen in die Zukunft», sagt Hüller, auch wenn sie in den nächsten Jahren einmal einen Rückschlag erleiden sollte und langweiligere oder kleinere Projekt anfasse. «Es geht ja nicht einfach immer höher.»