Am 6. September 1970 entführt die palästinensische Volksbefreiungsfront PFLP mehrere Flugzeuge, darunter eine voll besetzte DC-8 der Swissair auf dem Weg von Zürich nach New York, und zwingt sie in der jordanischen Wüste zur Landung. Der «Skyjack Sunday» markiert den Beginn des modernen Terrorismus. Und die Schweiz ist mittendrin. Nach einer Woche zähen Ringens um die Freilassung dreier in Zürich inhaftierter Palästinenser jagen die Terroristen die drei leer geräumten Maschinen der Swissair, der TWA und der britischen BOAC in die Luft. Die 145 Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder des Schweizer Flugzeugs kommen mit dem Leben davon.
Im Dokumentarfilm «Swissair Flug 100» von Adrian Winkler (48) und Laurin Merz (48), der am 22. Februar auf SRF 1 läuft (20.05 Uhr), erinnern sich Zeitzeugen an die traumatischen Tage vor 50 Jahren auf dem Flugfeld Dawson's Field in Zerka, einem früheren britischen Stützpunkt bei Amman.
Der damalige Kabinenchef Ernst Renggli (85), der im Film eine tragende Rolle hat, erinnert sich bei der Premiere des Films in Solothurn gegenüber Blick: «Die beiden Entführer sassen in der ersten Klasse, ein Paar, das sehr elegant angezogen war. Die sind wohl auf Hochzeitsreise, dachte ich spontan. Ich bot ihnen Champagner an, doch sie wollten nur Orangensaft. Nach einer halben Stunde haben sie dann ihre wahren Absichten offenbart.» Renggli wird mit einer Pistole bedroht. In der Wüste muss er später auch zusehen, wie die Entführer Dynamit ins Flugzeug bringen. «Damals habe ich das erste Mal richtig Angst gehabt. Warum nur bin ich hier, habe ich mich gefragt. Damit habe ich doch nichts zu tun. Ich ging davon aus, dass ich bald sterben muss, und habe schon mit meinem Leben abgerechnet.»
Nach einer Woche ist die Lage dramatisch
Auch die damalige Stewardess Beta Steinegger (89) hat die Bilder noch genau im Kopf. «Wir wurden auf einen Schlag zu einer Schicksalsgemeinschaft und fühlten uns füreinander verantwortlich. Erst nachdem ich später erfahren habe, dass es alle nach Hause geschafft hatten, war ich erlöst und konnte wieder ruhig schlafen.»
Brigitta Moser-Harder (80) ist ebenfalls als Stewardess dabei. Sie sagt: «Nach der ersten Nacht in der Wüste liessen Entführer die Frauen und Kinder gehen. Die weiblichen Crew-Mitglieder hätten sie begleiten dürfen. Doch wir wollten bei ‹unseren› Männern bleiben. Für uns war klar: Die Crew verlässt den Flieger zuletzt. Uns ging es etwas besser als den wartenden Passagieren. Denn wir hatten immer wieder etwas zu tun, verfaultes Essen wegräumen oder versuchen, die Toiletten in Gang zu halten. Ohne Strom funktionierten die Spülung und der Zerkleinerer nicht. Man kann sich den Zustand vorstellen.»
Nach einer Woche ohne Verhandlungsergebnis ist die Lage dramatisch. Und es kommt das Gerücht auf, dass israelische Einheiten die Maschinen stürmen würden, weil auch jüdische Passagiere an Bord sind. Renggli erzählt: «Ich war der Letzte, der unser Flugzeug vor der Sprengung verliess, und habe noch Passagieren die Leiter hinuntergeholfen. Draussen standen die Entführer und dahinter die Soldaten von König Hussein, die über den weiteren Verlauf diskutierten. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, jetzt werden wir alle erschossen.»
«Nach meiner Rückkehr bin ich zusammengebrochen»
Im Hintergrund laufen die diplomatischen Drähte heiss. Auch weil die Katastrophe von Würenlingen AG vom Februar 1970 mit 47 Toten – eine Zeitbombe explodiert in einer Swissair-Maschine – äusserst präsent ist. Die Regierungen der betroffenen Länder inklusive Bundesrat schalten sich ein. Und auch das Rote Kreuz nimmt Verhandlungen auf. «Phasenweise hatte ich Angst, dass der dritte Weltkrieg ausbricht», sagt Unterhändler Michel Barde (81) im Film. Schliesslich kommen Passagiere und Crew frei. Den Palästinensern genügt als Machtdemonstration vorerst die Sprengung. Die drei in der Schweiz einsitzenden Terroristen werden später ausgeliefert. Sie waren wegen des Angriffs auf eine El-Al-Maschine in Zürich vom Februar 1969 in Haft.
Für Renggli und weitere sechs Personen ist das Martyrium aber noch nicht vorbei. Die Terroristen verschleppen sie weiter in ein Flüchtlingslager, wo sie die jordanische Armee dann definitiv befreit. Renggli sagt rückblickend: «Nachdem ich in der Schweiz zurück war, meine Mutter anrief und sagte: ‹Ich bin wieder da›, bin ich zusammengebrochen. Die ganze Anspannung fiel weg, und ich musste zum Arzt, der mir Calciumspritzen verschrieb.»
Ein Care-Team gibt es damals noch nicht. Bald nimmt er seine Arbeit zwar wieder auf, doch die Erfahrungen aus Zerka beschäftigen ihn noch jahrelang. «Mich entführen zu lassen, das hätte ich nie mehr zugelassen. Wenn einer mit einer Knarre gekommen wäre, hätte ich ihn angegriffen und umzuhauen versucht.» Für einen neuerlichen Notfall sorgt er vor. «Wir hatten im Flugzeug ja vorschriftsmässig immer eine Crash-Axt dabei, um die Bullaugen zerschlagen zu können. Dieses Beil habe ich anfangs in der Bordküche immer unauffällig in der Nähe gehabt.»
«Wir haben damals auch Glück gehabt»
Dass die Entführer Waffen an Bord schmuggeln können, ist damals sehr einfach. Oft muss die Crew noch selber das Handgepäck der Passagiere kontrollieren. «Die Sicherheitsmassnahmen wurden erst später verstärkt», erinnert sich Moser-Harder. Nach den Ereignissen von 1970 wird die Luftpost geröntgt, eine verstärkte Passagier- und Handgepäckkontrolle eingeführt und die Sicherheitskontrolle vom Flugfeld ins Flughafengebäude verlegt. Auch ordnet der Bundesrat den Einsatz von Air- und Ground-Marshals an.
Alle drei Geiseln sind sich einig: «Wir haben damals Glück gehabt, hat uns nicht eine fanatischere Gruppe entführt. Sonst sässen wir jetzt nicht hier.» Die FPLP war eine linkssozialistisch geprägte Organisation, bei der Glaubensgrundsätze eine Nebenrolle spielten. Bei den Entführungen sind auch Frauen an entscheidender Stelle. Leila Khaled (79) wird später gar zu einer Art weiblicher Che Guevara hochstilisiert. Sie ist am 6. September bei der missglückten Entführung des El-Al-Flugs 219 beteiligt.
Zerka markiert eine Zäsur mit globalen Auswirkungen. Adrian Winkler: «Das Geiseldrama war ein globales Medienereignis in Farbe, welches die Welt nachhaltig veränderte. Der Beginn einer Gewaltspirale, die immer spektakulärere Anschläge erzeugt und bis heute weiterdreht.» Und Laurin Merz meint: «Zum ersten Mal wurde Terrorismus wirklich inszeniert, die Bilder der Sprengung wurden ikonisch und sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.»