Sie hat das Erbe ihres Vaters immer bei sich, ob sie will oder nicht. Mehr noch: Sie trägt es im Gesicht. Geraldine Chaplin sieht aus wie Charlie Chaplin (1889–1977). Diese Ähnlichkeit hat sich mit den Jahren noch verstärkt. Am 31. Juli wird Geraldine Chaplin 80 Jahre alt.
Sie hat das gleiche Lächeln, die gleichen traurigen Augen. Das ist keine Masche, sondern angeboren. Eine schwere Hypothek? Auszusehen wie der grösste Schauspieler aller Zeiten, wenn man selbst Schauspielerin ist und auch noch seinen Namen trägt?
Eine schweres Erbe?
Bei dieser Frage pflegt die Tochter zu lachen und antwortet gelassen: «Andere Leute erben Reichtum oder einen Titel. Ich habe einen Nachnamen geerbt. Wegen meines Namens öffneten sich die richtigen Türen.» Sie habe den Namen «so oft ich konnte benutzt und ausgebeutet», was in diesem Fall mehr Segen als Bürde war.
Unabhängig davon hat sie in mehr Filmen mitgewirkt als ihr legendärer Vater, der in seinem Leben 80 gedreht hat. Bei ihr waren es an die 100, den letzten 2023 an der Seite von John Malkovich (70): «Seneca – Oder: über die Geburt von Erdbeben».
Ihr Name wird seit Jahrzehnten zu den bedeutendsten ihrer Branche gezählt, sie begeisterte Publikum und Kritik in Filmen wie «Doktor Schiwago», «Züchte Raben», «Du wirst noch an mich denken», «Mutter Teresa: im Namen der Armen Gottes», «Beresina oder die letzten Tage der Schweiz», «The Wolfman», «Das Waisenhaus» oder «Sprich mit ihr». Doch bei allem, was sie tut und leistet, steht stets der monumentale Name des Vaters im Hintergrund.
Sie ist das älteste von acht Kindern
Der hatte nach drei Ehen und drei Kindern 1943 Oona O'Neill (1925–1991), Tochter des US-Dramatikers und Literaturnobelpreisträgers Eugene O'Neill (1888–1953), geheiratet. Sie war 18, er 54. 1944 wurde Tochter Geraldine geboren, nach ihr kamen sieben weitere Kinder. Sie alle mussten in frühen Jahren miterleben, dass der Ruhm des Vaters eine politische Kehrseite hatte.
Charlie Chaplin war ursprünglich ein Londoner Schauspieler, der 1910 erstmals in die USA kam. Seine britische Staatsangehörigkeit legte er Zeit seines Lebens nie ab, obwohl er seine grössten Erfolge in Amerika feierte. Seine bekannteste Rolle war die des Tramps, der ihn in den Stummfilmzeiten der 1920er-Jahre zum bekanntesten Star machte.
Chaplin war ein genialer Darsteller und Regisseur gleichermassen. Doch die sozialkritischen Untertöne seiner Filme wurden in einigen politischen Kreisen der USA missbilligt. Als 1940 sein erster Tonfilm «Der grosse Diktator» herauskam, sah die US-Zensurbehörde darin nicht nur eine satirische Parodie auf den deutschen Faschismus, sondern auch Kritik am Militarismus und der US-Staatsmacht. Sie wollte den Film, der ein grosser Erfolg wurde, zunächst nicht genehmigen.
Die USA verbannten ihren grössten Star
Nach dem Ende des Krieges wurde der liberale Pazifist Chaplin vor allem von FBI-Chef J. Edgar Hoover (1895–1972) verfolgt, der ihm «kommunistische» und «unamerikanische Umtriebe» unterstellte und ihm seine Aufenthaltsgenehmigung entziehen wollte.
1952 hatte Hoover Erfolg, Amerika verbannte seinen grössten Star: Charlie Chaplin reiste mit seiner Familie zur Weltpremiere seiner Tragikomödie «Rampenlicht» nach England, als man ihm auf hoher See mitteilte, dass sich das US-Justizministerium gegen seine Rückkehr in die USA ausgesprochen habe. Die Chaplins zogen in die Schweiz, da war Geraldine acht Jahre alt. Sie wurde in einem Internat eingeschult, wo sie fliessend Französisch und Spanisch lernte.
«Ein guter, aber auch ein sehr strenger Vater»
In einem Interview mit der «Welt» beschrieb ihn seine Tochter: «Er war ein guter, aber auch ein sehr strenger Vater. Sie dürfen nicht vergessen, er ist 1889 geboren, er war noch sehr viktorianisch. Das Schöne war, er war oft da. Er arbeitete viel zu Hause. Das hiess aber auch, dass wir uns nur auf Zehenspitzen bewegen durften und mucksmäuschenstill sein mussten. Wenn wir spielen wollten, mussten wir raus.»
Er habe grossen Wert auf Disziplin gelegt. «Wenn wir nicht gut in der Schule waren, wurden wir schwer bestraft. Fernsehen konnte er uns noch nicht verbieten, das gabs ja noch nicht. Aber wir hatten Hausarrest. Und was immer wir wollten, wir durften es dann nicht. Ich habe allerdings keinen Vergleich; ich hatte ja nur diesen einen Vater. Und ich war glücklich, denn er war der berühmteste, der beliebteste Mann der Welt.»
Ein Mann, der auch im Privaten sehr ausgelassen sein konnte: «Er war wirklich sehr lustig mit seinen Kindern, eigentlich immer, wenn er Publikum hatte, war er grossartig. Manchmal habe ich mich gefragt, ob er deshalb so viele Kinder bekommen hat, um ein grosses Publikum zu haben.»
Dieser geniale Filmstar war entsetzt, als er von Geraldines Wunsch, ebenfalls Schauspielerin zu werden, zum ersten Mal hörte. «Er wollte immer, dass seine Kinder etwas Anständiges lernen. Sie sollten Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Architekten werden, nur nicht Schauspieler.»
Mit «Doktor Schiwago» änderte sich alles
Als Mädchen hatte Geraldine zunächst die Vorstellung, Balletttänzerin zu werden. Sie absolvierte eine Ausbildung an der Londoner Royal Ballet School, doch ihr fehlte, wie sie später sagte, das Talent für eine Primaballerina. Also wurde sie Schauspielerin.
Den ersten Film drehte sie mit dem damaligen Weltstar Jean Paul Belmondo (1933–2021). Der zweite Film wurde ein Weltklassiker, in «Doktor Schiwago» spielte sie eine Hauptrolle, die Ehefrau Tonya des russischen Arztes. Von da an war ihr Vater auch ihr Fan, wie sie erzählte.
Bereits als Kind hatte sie mit Charlie Chaplin gedreht, 1952 in «Rampenlicht». «Es war ja nur ein halber Tag», sagte sie im «Welt»-Interview. «Mein Bruder, meine Schwester und ich, wir waren froh, dass wir schulfrei hatten. Wir durften Gassenkinder spielen, das hat Riesenspass gemacht.»
1967 stand sie in Charlie Chaplins letztem Film «Die Gräfin von Hongkong» vor der Kamera, ihr Vater war der Regisseur. «Er war der totale Perfektionist, sehr fordernd und obsessiv. Wenn was nicht klappte, konnte er wild werden. Die Art, wie er Regie führte, war unglaublich. Er spielte die Rolle, spielte Sophia Loren was vor und war mehr Sophia Loren, als sie es je sein konnte.»
Ehren-Oscar für Charlie Chaplin
Einen Oscar für ihre schauspielerischen Leistungen hat Geraldine nie bekommen. Aber sie hat ihren Vater 1972 in die USA begleitet, als Charlie Chaplin einen Ehren-Oscar für seine «unschätzbaren Verdienste um die Filmkunst» erhielt. «Sie gaben ihm nur ein Visum für zehn Tage, wir konnten es nicht fassen... Er hat fröhlich erzählt: ‹Die Amerikaner haben immer noch Angst vor mir›», erinnert sie sich. An diesem Abend applaudierte das Publikum 12 Minuten lang dem grossen Chaplin – bis heute ein Rekord.
Charlie Chaplin starb 1977 mit 88 Jahren in der Schweiz. Er hat Geraldines Hochzeit 2006 mit dem chilenischen Kameramann Patricio Castilla nicht mehr miterlebt, auch nicht die Geburt ihrer Tochter 1986, die Oona heisst, wie Chaplins vierte Ehefrau. Sie wurde ebenfalls Schauspielerin.
Geraldine Chaplin, die in Europa eine glänzende Karriere hatte und mit grossen Filmemachern wie Alain Resnais, Jacques Rivette, Franco Zeffirelli und Carlos Saura drehte, von dem sie auch ihren Sohn Shane hat, beklagte sich immer wieder, dass sich in den USA kaum ein Regisseur für sie interessiere ausser Robert Altman und sein Schüler Alan Rudolph: «Ich habe in diesem Land keine Angebote, keine. Nicht einmal ein interessantes Drehbuch zum Lesen. Die Einzigen, die mich jemals fragen, sind Altman und Rudolph.» Hat die Tochter von ihrem unvergleichlichen Vater auch den gleichen Bannstrahl geerbt?