Bei den britischen Wettbüros war sie die höchstgehandelte Frau für den diesjährigen Nobelpreis für Literatur: die Französin Annie Ernaux (82). In ihrer Heimat längst eine prägende Stimme, findet sie in den vergangenen Jahren auch im deutschsprachigen Raum Gehör und landet mit ihren neu übersetzten Büchern regelmässig in den Bestsellerlisten.
«Erinnerungen eines Mädchens» (franz. Original 2016), «Das Leben einer Frau» (1987) oder «Die Jahre» (2008) heissen ihre Romane, in denen sie immer wieder ihr eigenes Leben zum Stoff macht. Sie sieht sich denn auch als «Ethnologin ihrer selbst» und schreibt neutral und distanziert – häufig in der dritten Person – über ihre Erfahrungen.
«Für den Mut und die klinische Schärfe»
In «Eine vollkommene Leidenschaft» (1991) verarbeitet Ernaux eine Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann, und «Das Ereignis» (2020) ist der autobiografische Bericht, in dem sie die verzweifelten Versuche einer Abtreibung beschreibt – zu Zeiten, als man Frauen deswegen kriminalisierte.
Ernaux bekommt den mit gut 800'000 Franken dotierten Nobelpreis denn auch «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt», wie die schwedische Akademie am Donnerstagmittag in Stockholm verkündete.
Von den bisher 119 Preisträgerinnen und Preisträgern ist Ernaux erst die 17. Frau, aber bereits die 17. Person mit französischem Wohnsitz – damit ging der Literaturnobelpreis mit Abstand am häufigsten in unser westliches Nachbarland.