#MeToo erschüttert die Rockwelt: Mehrere junge Frauen erheben seit über zwei Wochen schwere Vorwürfe gegen Till Lindemann (60), Frontsänger der deutschen Metalband Rammstein. Auf Social Media und gegenüber diversen Medien berichten sie von einem ausgefeilten Rekrutierungssystem, bei dem weibliche Fans an Konzerten für Backstagepartys und für sexuelle Begegnungen mit Lindemann regelrecht «gecastet» worden seien.
Die deutsche Youtuberin Kayla Shyx (21) schildert in einem millionenfach geklickten Video die Fälle mehrerer junger Frauen, die unter falschem Vorwand in den Backstagebereich geführt worden sein sollen. Als Beleg zeigt Shyx Handy-Screenshots von mutmasslich Betroffenen. Bei den anschliessenden Treffen seien sie zum Alkoholtrinken animiert, teilweise heimlich unter Drogen gesetzt und sexuell bedrängt worden. Es soll zu Übergriffen und Gewalt gekommen sein. Mehrere Frauen berichteten von mutmasslichen sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt hätten.
Die Band und ihr Management – für alle gilt die Unschuldsvermutung – weisen die Vorwürfe von sich. Sänger Till Lindemann hat unterdessen mehrere Anwälte eingeschaltet. Diese haben angekündigt, «wegen sämtlicher Anschuldigungen dieser Art umgehend rechtliche Schritte gegen die einzelnen Personen» einzuleiten.
Ex-Groupie soll Frauen gezielt kontaktiert haben
Eine wichtige Figur im Skandal ist die Russin Alena M.* (40). Die selbst ernannte «Casting-Direktorin» soll junge Frauen in der sogenannten «Row Zero», dem Bereich direkt vor der Bühne, gezielt kontaktiert haben, um sie zu Partys mit der Band nach dem Konzert einzuladen. Rammstein distanziert sich von Alena M. Sie hätten sich von der Backstagemitarbeiterin getrennt, liess die Band verlauten. An einem Rammstein-Konzert in München (D) wurde sie vor wenigen Tagen allerdings trotzdem gesehen.
Die Drahtzieherin soll einst selber ein Supergroupie gewesen sein – und das nicht nur von Rammstein. Im Internet findet man Fotos von M. mit Schockrocker Marilyn Manson (54), Nick Cave (65) und Iggy Pop (76). Ein ehemaliges Groupie als potenzielle Mittäterin: Damit stellt sich die Frage: Wie sehr ist das Groupietum ein Bestandteil des Rockbusiness? Wo liegen die Grenzen zwischen Fankult und Machtmissbrauch?
«Groupies hat es schon immer gegeben»
«Groupies sind ein Phänomen, das es bei Menschen, die im Rampenlicht stehen, schon immer gegeben hat. Nicht nur in der Musik», sagt Chris von Rohr (71), Bassist und Gründer der Schweizer Rockband Krokus. «In welcher Reihenfolge ein Star den Slogan ‹Sex, Drugs and Rock 'n' Roll› leben will, ist seine Wahl. Das Spiel mit dem Feuer kann wärmen, aber auch verbrennen. Beispiele gibts genug. Das gilt übrigens für beide Seiten», sagt die Solothurner Rocklegende.
Tatsächlich wurden Rock 'n' Roll und die Groupiekultur einst als Befreiung von der bürgerlichen Sexualmoral gefeiert. Groupies wie Anita Pallenberg (1942–2017) oder Pamela Des Barres (74) prägten die Rockszene der 60er- und 70er-Jahre. «Es gibt Fans, die wollen unbedingt mit einem Star ins Bett», sagt H. Elias Fröhlich (75), langjähriger Blick-Musikexperte. «Rock ohne Groupies gibt es nicht. Doch der Groupiemythos, wie wir ihn von früher kennen, bricht langsam zusammen.»
«Je bekannter die Band, desto höher das Machtgefälle»
Dieser Meinung schliesst sich Romana Kalkuhl (33) an, Gitarristin und Gründerin der Schweizer Frauen-Metalband Burning Witches. «Das Perfide ist: Je bekannter die Band ist, desto höher ist das Machtgefälle», sagt Kalkuhl. Die Aargauerin war schon als Teenie ein grosser Rock- und Metalfan und machte als junge Frau selber unangenehme Erlebnisse im Backstagebereich. «Plötzlich wirst du von deinem Idol angemacht und willst das gar nicht.» Doch werde man als junge Frau im Backstage unter Alkohol oder gar Drogen gesetzt, fehle einem oft die Reife und das Selbstbewusstsein, in der Situation richtig zu handeln. «Ich hatte Glück und konnte den Raum im richtigen Moment verlassen. Aber viele Mädchen schaffen das nicht. Sie haben Angst, sich zu wehren. Vor allem, wenn ihr Idol vor ihnen steht, das sie jahrelang angehimmelt haben.»
«Alle Frauen, alles meins. Alles dreht sich nur um mich», singt Till Lindemann im Song «Platz eins». Worte mit einem faden Beigeschmack. Die Allmachtsfantasien mancher Rockstars seien ein zentraler Punkt des aktuellen Skandals, ist sich H. Elias Fröhlich sicher: «Stars wie Till Lindemann haben das Gefühl, sie seien Götter, für die keine Regeln gelten. Doch auch sie müssen Verantwortung übernehmen. Lindemann wird aktuell dazu gezwungen.»
Rockszene werde von Vergangenheit eingeholt
Dass die MeToo-Bewegung unterdessen auch in der Musikwelt angekommen ist, überrascht den Experten nicht. Fröhlich: «Die Rockszene ist von ihrer Vergangenheit eingeholt worden. Denn es gab schon immer missbräuchliches Verhalten unter den Musikern. Deep Purple hatten Rowdys, die Mädchen ausfindig machten und sie Backstage in einem Raum eingesperrten – ganz ähnlich, wie das die Frauen nun bei Lindemann schildern.»
Der Fall Rammstein zeige, dass es an der Zeit sei, mit dem überholten Groupiemythos endgültig aufzuräumen: «Das ist ein klares Signal für alle Bands. Es geht nicht mehr, dass man eine Special Row macht, in die man Mädchen einlädt, mit denen man gerne Sex hätte.» Romana Kalkuhl stellt gar das Motto «Sex, Drugs and Rock 'n' Roll» infrage: «Viele sagen, das ist die Essenz vom Leben als Rockstar, das gehöre dazu. Doch heute ist es nicht mehr als ein veraltetes, toxisches Denkmuster. Man kann auch ein weiblicher Fan eines Musikers sein, ohne dass man mit ihm ins Bett will. Und wenn doch, dann soll das bitteschön im gegenseitigen Einverständnis und auf Augenhöhe geschehen.»
*Name bekannt
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