Visp im Wallis. Auf dem Gelände des Chemie- und Pharmakonzerns Lonza gelten penible Sicherheitsvorschriften: Absperrung und Drehkreuz am Eingang, Schutzbrille und Schutzanzug im Labor, Helm und Sicherheitsschuhe auf der Baustelle, Maske, Desinfektionsmittel und Warnschilder – überall!
Doch es gibt etwas, das die Lonza-Verantwortlichen nicht zu fürchten scheinen: die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. «Wir konnten die Herausforderungen bis anhin sehr gut meistern», sagt Renzo Cicillini (46), Leiter des Standorts Visp. Zum Beweis zeigt er SonntagsBlick drei riesige Gebäude, die in den letzten Monaten geradezu aus dem Boden gestampft worden sind. «Bis Ende Jahr entstehen hier noch mal Hunderte neue Arbeitsplätze für Biotechnologen, Ingenieure und Produktionsmitarbeiter», sagt Cicillini. «Unser Standort wächst alleine in diesem Jahr von 3400 auf 4000 Mitarbeiter.»
Lonza ist ein Paradebeispiel für den Boom der hiesigen Pharmaindustrie. Während die Schweizer Exporte im zweiten Quartal 2020 generell um 18 Prozent einbrachen, nahmen die Ausfuhren der Pharmaindustrie um 1,7 Prozent zu. Und von den 50 Milliarden Franken, die Schweizer Unternehmen im April, Mai und Juni mit Exporten verdienten, gingen 29 Milliarden allein auf das Konto von Pharmakonzernen.
Pharmabranche rettet nur das BIP
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das diese Woche einen «historischen Einbruch» des Bruttoinlandprodukts (BIP) vermelden musste, betonte deshalb in seiner Medienmitteilung: Die «gewichtige Pharmabranche» habe einen noch grösseren Aderlass verhindert. Im internationalen Vergleich sei die Schweiz deshalb «verhältnismässig glimpflich» davongekommen.
Das Problem ist nur: Big Pharma hat zwar eine extrem hohe Wertschöpfung und sorgt für starke Export- und BIP-Zahlen. Doch als Arbeitgeber kann man die Branche fast vernachlässigen. Nicht einmal 50'000 Menschen in der Schweiz erhalten ihren Lohn von Novartis, Roche und Co. – daran ändert auch das Jobwunder von Lonza wenig.
Zum Vergleich: Die Gastro- und Beherbergungsbranche bietet rund fünfmal mehr Menschen in der Schweiz einen Job. Oder besser gesagt: bot – die Zahl ihrer Beschäftigten ging im Vergleich zum Sommer letzten Jahres von 266'730 auf 234 '419 zurück.
Da stellen sich Fragen: Was nützt eine starke Pharmaindustrie dem Portier und der Kellnerin, die auf der Strasse stehen? Was hat der Schweizer Steuerzahler von vergleichsweise guten BIP-Zahlen, wenn Zehntausende vom Sozialstaat abhängig werden und von der Allgemeinheit mitfinanziert werden müssen?
Hier die Meinung des Seco: «Mittel- bis langfristig besteht ein starker Zusammenhang zwischen der BIP-Entwicklung und dem Arbeitsmarkt. Dies liegt daran, dass die einzelnen Branchen stets im Austausch mit anderen Branchen sind, beispielsweise als Zulieferer von Waren oder Dienstleistungen für deren Produktion.»
Im Juni 2020 wurden in der Schweiz insgesamt 5'095'372 Beschäftigte gezählt. Das sind 30'983 weniger als ein Jahr zuvor. Die Grafik zeigt, wo am meisten Jobs verloren gegangen sind – und wo trotz Corona Stellen geschaffen wurden. Die Zahl (in Klammern) nennt die aktuelle Beschäftigungszahl der ausgewählten Branchen.
Im Juni 2020 wurden in der Schweiz insgesamt 5'095'372 Beschäftigte gezählt. Das sind 30'983 weniger als ein Jahr zuvor. Die Grafik zeigt, wo am meisten Jobs verloren gegangen sind – und wo trotz Corona Stellen geschaffen wurden. Die Zahl (in Klammern) nennt die aktuelle Beschäftigungszahl der ausgewählten Branchen.
Pharmabranche hilft auch dem lokalen Gewerbe
Und Renzo Cicillini von Lonza betont: «Unser Ausbau hier in Visp bringt zahlreiche Aufträge fürs lokale Gewerbe mit sich.» Auch langfristig profitiere die Region: «Bauunternehmen können für die Zuzüger Wohnungen und Häuser bauen. Restaurants und Bergbahnen bekommen zusätzliche Gäste. Gemeinden und Kanton zusätzliche Steuerzahler.»
Cicillini muss jedoch eingestehen: Ob das alles genügt, um die Stellenverluste in anderen Branchen zu kompensieren, könne er nicht abschätzen.
Daniel Lampart (51), Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), sieht das eher skeptisch: «Die hohe Wertschöpfung der Pharmaindustrie ist zwar sehr erfreulich. Ein Heilmittel gegen die Krise ist das aber nicht.»
Zwar sieht auch Lampart Anzeichen dafür, dass die Schweiz besser durch die Krise kommt als die meisten anderen Länder – auch was die Arbeitslosigkeit betrifft. Mit der boomenden Pharmabranche habe das aber wenig zu tun: «Wir stehen besser da als andere, weil der Bund der Wirtschaft schnell und grosszügig unter die Arme gegriffen hat: mit der Ausweitung der Kurzarbeit, dem Corona-Erwerbsersatz für Selbständige sowie dem Kreditprogramm für Unternehmen.»
Angriff auf das Arbeitsgesetz
Peter Grünenfelder, Direktor der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, macht nochmals andere Gründe für den «verhältnismässig glimpflichen» Wirtschaftseinbruch aus: «Der verordnete Lockdown war in der Schweiz kürzer und weniger strikt als in anderen Ländern. Baustellen und Fabriken blieben offen. Dadurch wurde die Wirtschaft nicht komplett abgewürgt.»
Dafür, dass sie sich nun möglichst rasch erholt, gibt es nach Meinung von Grünenfelder deshalb nur ein Erfolgsrezept: «Der Staat muss sich nun wieder zurückziehen und den Unternehmen deutlich mehr Freiheiten geben – zum Beispiel mit einer Liberalisierung des Arbeitsgesetzes.»
Dass ein solcher Rückzug staatlicher Instanzen die Arbeitslosenzahlen kurzfristig in die Höhe schnellen lassen wird, bestreitet Grünenfelder nicht. «Die Strukturbereinigung sollte jedoch durch die Politik nicht künstlich aufgehalten werden. Denn mit neuen, innovativen Geschäftsmodellen entstehen auch wieder neue Jobs.»
Jan-Egbert Sturm (51), Chef der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), sagt ebenfalls, es lasse sich nicht verhindern, dass in der Reisebranche, bei Hotels, Restaurants, Bars und Clubs Jobs wegfallen werden.
Die Gewinner sollen bezahlen
Anders als Grünenfelder macht sich Sturm, der die Arbeitsgruppe Wirtschaft der Covid-19-Taskforce leitet, für Unterstützungsmassnahmen stark: Der Bund müsse Geld und Sicherheiten zur Verfügung stellen, damit Firmen wieder in zukunftsträchtige Technologien und Geschäftsmodelle investieren. Zudem befürwortet er eine Extrasteuer für Firmen, die während der Krise hohe Gewinne eingefahren haben.
Lonza hätte an einer solchen Steuer wenig Freude. Dort hat man in der Corona-Krise Umsatz und Gewinn gesteigert. Und ein weiterer lukrativer Grossauftrag ist bereits aufgegleist: die Zusammenarbeit mit der US-Firma Moderna zur Entwicklung und Herstellung eines Corona-Impfstoffs.
«Wenn alles nach Plan läuft, bekommt Moderna bis Ende Jahr eine Zulassung», sagt Renzo Cicillini, Leiter des Lonza-Werks in Visp.
Die nötigen Produktionskapazitäten liessen sich mithilfe der nun bereitstehenden Neubauten schnell schaffen: «Wir könnten Anfang 2021 mit der Produktion beginnen.»
Für Visp bedeutet dies 200 weitere Arbeitsplätze. Doch viel wichtiger: Ein zuverlässiger Impfstoff würde den Corona-Albtraum endlich beenden.
Und die Pharmabranche könnte damit unzählige Jobs retten – nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt.