Es war ein Freitagvormittag Anfang September. Dawud H.* (24) holt die Post aus dem Briefkasten seiner Privatunterkunft in Lanzenhäusern BE. Ein Brief ist an ihn adressiert. Erst freut er sich. Doch als er den Brief öffnet, trifft ihn der Schlag. Es ist eine Nachricht der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland. Konkret: ein Strafbefehl.
H. ist Afghane, 2015 flüchtete er aus seinem Heimatdorf in der zentralafghanischen Region Daikondi in die Schweiz. Im Kanton Bern baut er sich ein neues Leben auf. Er beginnt eine Lehre, lernt schnell Deutsch und findet Freunde. Doch seine Asylanträge fallen negativ aus. Am 7. November 2019 wird eine Wegweisungsverfügung gegen den jungen Mann rechtskräftig, doch er bleibt in der Schweiz – illegalerweise. Dafür soll er nun rückwirkend bestraft werden. Ihm droht eine Geldstrafe von 620 Franken oder alternativ: 12 Tage Knast.
Abschiebungen ausgesetzt
Und das, obwohl das Staatssekretariat für Migration (SEM) seit dem 11. August offiziell den Vollzug von Wegweisungen nach Afghanistan aussetzt. Was mit Personen wie Dawud H. passiert, die eigentlich das Land verlassen müssten, klärt das SEM laut Mediensprecher Reto Kormann zurzeit.
Dazu kommt: H. kann die Strafe nicht bezahlen. «Ich lebe mit 8 Franken am Tag und arbeiten darf ich nicht, obwohl ich möchte.» Ins Gefängnis möchte er auch nicht. Gemeinsam mit seiner Anwältin erhob er am 10. September Einspruch. Sie fordern: eine Rücknahme der Strafe – oder zumindest die Möglichkeit auf Ratenzahlung oder Zahlung durch Freiwilligenarbeit.
Nach einer ersten Anfrage von Blick bestritt die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland zunächst, Strafbefehle wegen illegalen Aufenthalts gegen Geflüchtete auszustellen. Nach Vorlage des konkreten Falls von Dawud H. bestätigte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Christof Scheurer schliesslich das laufende Strafverfahren gegen den jungen Afghanen. Dabei bezieht er sich auf eine Anzeige der Kantonspolizei Bern.
«Mein Leben ist hier»
Erst Ende Juni entkam Dawud H. knapp einer Abschiebung. Als er zum Ausreisegespräch beim Migrationsdienst Bern antritt, wird er in Handschellen gelegt. Er verbringt eine Nacht im Gefängnis und wird schliesslich nach Genf an den Flughafen gebracht. «In dem Moment dachte ich mir: Jetzt ist alles vorbei», sagt H. Schlussendlich sei er aber nur befragt worden. Anschliessend darf er gehen.
Wenige Wochen später, am 22. Juli, reicht H. ein Mehrfachgesuch ein. Denn schon damals war klar: Afghanistan würde fallen. Auf sein Gesuch hat er bis heute noch keine Rückmeldung.
Dawud H. ist frustriert. «Seit sechs Jahren bin ich nun hier. Ich verliere so viel Zeit mit Nichtstun. Stattdessen könnte ich meine Lehre fertig machen und endlich arbeiten.» Er sieht sich in einer ausweglosen Situation. Seine Zukunft ist ungewiss: «Nach Afghanistan kann ich nicht zurück. Bleibe ich hier, mache ich mich strafbar. Und gehe ich in ein anderes europäisches Land, schicken sie mich ziemlich wahrscheinlich in die Schweiz zurück, weil ich hier registriert bin.» Ausserdem möchte er nicht gehen. «Mein Leben ist hier», sagt er.
* Name bekannt