St. Galler Chef-Infektiologe Pietro Vernazza kritisiert Massnahmen
«Hätten es wie Schweden machen sollen»

Der St. Galler Infektiologe Pietro Vernazza kritisiert den Lockdown des Bundesrats. Viele Entscheidungen würden ohne fundierten wissenschaftlichen Hintergrund gefällt. Zudem wäre für die Zukunft der schwedische Weg die bessere Variante gewesen.
Publiziert: 27.04.2020 um 12:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.04.2020 um 09:05 Uhr
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Chefarzt Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen kritisiert den Weg des Bundesrats zurück zur Normalität.
Foto: ZVG

Nach sechs Wochen Stillstand in der Schweiz gibt es heute endlich erste Lockerungen: Coiffeursalons, Nagelstudios, Gartencenter und Baumärkte dürfen wieder öffnen. In den nächsten Wochen folgen weitere Schritte.

Diese zögerliche Vorgehensweise des Bundesrats kritisiert Pietro Vernazza, Chefarzt in der Klinik für Infektiologie St. Gallen, in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung».

Die Massnahme sieht Vernazza als übertrieben an und sagt gegenüber der «AZ»: «Ich hätte eher eine Strategie gewählt, bei der wir gefährdete Personen besonders schützen (...), aber den Aufbau einer Immunität in der Bevölkerung zulassen. So, wie das Schweden macht.»

«Schulen hätten am 19. April wieder geöffnet werden sollen»

Bekanntlich hat sich der Bundesrat aber für einen anderen Weg entschieden. Vernazza stellt im Interview klar, dass er nicht gegen den Lockdown ist. Man habe die Spitäler vor einer Überlastung geschützt, so der Infektiologe. Aber: «Nun geht es darum, neue wissenschaftliche Erkenntnisse sofort wieder in Massnahmen umzusetzen», sagt Vernazza.

Dies würde aber nur zögerlich passieren. Wie beispielsweise bei der Wiedereröffnung der Schulen. Studien hätten gezeigt, dass Schulschliessungen keine effiziente Massnahme gegen die Verbreitung des Coronavirus sind. «Deshalb hätten die Schulen am 19. April nach den Ferien wieder geöffnet werden sollen», sagt er.

«Sicherheitsdistanz ohne Grund auf zwei Meter erhöht»

Auch die Empfehlung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zum Social Distancing findet Vernazza übertrieben und erklärt: «Wir wissen, dass Tröpfchen einen bis anderthalb Meter weit transportiert werden. Jetzt hat man die Sicherheitsdistanz ohne Grund auf zwei Meter erhöht.»

Diese Regelung würde in Zukunft vor allem für Restaurants Folgen haben: «Nun muss der Gastwirt vier Quadratmeter Fläche pro Gast anbieten, bei 1,4 Metern Abstand wären das noch zwei», sagt Vernazza.

«Wir werden grosse Umsetzungsprobleme haben»

Mit einer Corona-App will der Bund die Infektionsketten wieder erkennen und unterbrechen. Dies würde bedeuten, dass Infizierte isoliert werden und sich deren Kontakte in Quarantäne begeben müssen.

Vernazza kritisiert diese Strategie und stempelt sie als heroisch ab: «Stellen Sie sich vor, ein Mitarbeiter in einer Produktionseinheit wird krank. Nun verordnet der Kantonsarzt zehn Tage Quarantäne für die ganze Produktionseinheit. Wollen wir das?», fragt Vernazza, und sagt weiter: «Wir werden grosse Umsetzungsprobleme haben.»

«Für junge, gesunde Menschen ist ein Lockdown längerfristig übertrieben»

Forscher der Universität Harvard in den USA haben in einer Simulations-Studie zur Coronavirus-Pandemie berechnet, dass das Virus immer wieder kommen könnte. Vernazza dazu: «Das ist wahrscheinlich, so, wie bei anderen respiratorischen Viren und auch bei der Grippe.» Deshalb könne man nun aber nicht die ganze Welt auf den Kopf stellen, so der Infektiologe weiter.

Man müsse differenziert mit dem Virus im Alltag umgehen, meint Vernazza, und sagt: «Risikopersonen schützen, aber den anderen Bewegungsfreiheit ermöglichen. Für junge, gesunde Menschen ist ein Lockdown deshalb längerfristig übertrieben.» (sib)

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