Sirma Avdi lacht herzlich, reisst Witze im Jugendslang, setzt ihre Sonnenbrille auf, während sie ihren weissen Mercedes GLA selbstbewusst und tiefenentspannt durch Spreitenbach AG steuert. «Meine Fahrschüler kennen und lieben mich so. Dabei hätte ich früher nie gedacht, dass ich einmal Fahrlehrerin werde. Immerhin habe ich vor Angst gezittert, wenn ich mich hinters Steuer gesetzt habe!», sagt die 42-jährige Schweizerin mit mazedonischen Wurzeln zu Blick.
Avdis Weg zur entspannten Fahrlehrerin ist steinig, geprägt von Schicksalsschlägen. Im Dezember 2005 wird ihr damals 28-jähriger Ehemann schwer verletzt, er liegt fortan im Wachkoma. Er kann zwar noch teilweise selbständig atmen, doch er reagiert auf keine Reize mehr. Sirma Avdi ist damals 25 Jahre alt.
13 Jahre im Wachkoma
Über Nacht verändert sich ihr Leben dramatisch: Plötzlich ist sie alleinerziehend mit zwei Töchtern im Alter von drei und fünf Jahren. Ihre grosse Liebe: zwar hier, aber gleichzeitig auch nicht. «Alles brach in diesem Moment zusammen. Lange dachte ich, dass ich ohne ihn nicht weitermachen kann, so gross war der Schmerz. Er war mein grösster Unterstützer.» Doch Avdi gibt nicht auf, kämpft weiter: für sich, ihre Töchter und ihren Mann.
«Ich habe ihn jeden Tag in der Klinik besucht – 13 Jahre lang. Ich konnte nicht viel für ihn tun, ausser ihn spüren lassen, dass er nicht alleine ist», sagt die Frau aus Spreitenbach. Immer habe sie auf ein Wunder gehofft. «Und doch fühlte sich jeder Tag wie ein Abschied an.»
Gleichzeitig warten zu Hause die beiden Töchter, die in ihrer Abwesenheit von der Schwiegerfamilie betreut werden. Avdi sagt: «Wenn ich einmal länger bei meinem Mann war, hatte ich gegenüber meinen Kindern ein schlechtes Gewissen. Eigentlich wollte ich nur, dass sie nicht unter meinem Schmerz und unserem Schicksal leiden.»
Kampf gegen die Angst
Es sei schwer gewesen, alles unter einen Hut zu bekommen – vor allem zeitlich. «Mein Mann wurde von Klinik zu Klinik verlegt und ich reiste rund zwei Jahre lang mit dem ÖV zu ihm. Durch die Fahrten verlor ich sehr viel Zeit», erinnert sich Avdi. Deshalb entschliesst sich die junge Frau, ihre grösste Angst – das Autofahren – zu überwinden. Sie erzählt: «Ich hatte es schon Jahre zuvor mehrmals probiert. Doch kaum setzte ich mich hinters Steuer, zog sich mein Magen zusammen, mein Herz raste und ich begann zu schwitzen. Das Autofahren war gar nicht meins.» Also liess sie es bleiben.
Doch dieses Mal hat sie Erfolg. «Ich wusste: Jetzt brauchst du deinen Fahrausweis! Nur so hast du mehr Zeit für deine Kinder und deinen Mann.» Schritt für Schritt lernt Avdi, ihre Angst zu beherrschen – und besteht auf Anhieb die Fahrprüfung. «Ich habe gleich meinen Mann besucht und ihm davon erzählt. Es war ein grosser Wunsch von ihm, dass ich das Autofahren erlerne. Er war überzeugt, dass ich dadurch unabhängiger werde. Dem war auch so.»
Der Wiederaufbau
Schritt für Schritt findet Avdi ins Leben zurück. Weil sie anderen Menschen helfen will, beginnt sie vier Jahre nach dem Unfall ihres Mannes damit, im Quartiersverein «Treffpunkt CaféBar» mitzuarbeiten. «Der Verein hat das Ziel, die soziale Integration im Quartier und im Dorf zu verbessern – vor allem von Frauen.»
Zudem gibt Avdi Nachhilfe für Primarschüler. «Dadurch habe ich auch die Lust am Lernen wiedergefunden.» Während sie die Woche über bei einem Online-Versandhaus arbeitet, besucht sie die an den Samstagen die Handelsschule. Nebenbei stemmt sie die Erziehung ihrer Kinder, die Arbeit im Haushalt und alles andere.
2018 stirbt ihr Mann dann an einer Lungenentzündung – und damit die letzte Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Doch dieses Mal hat Avdi dank der Frauen vom Quartiersverein ein soziales Netz, das sie in ihrer Trauer auffängt. So schafft sie es trotz allem, die Handelsschule abzuschliessen.
Geduldigere Fahrlehrerinnen
Und es sind auch die Frauen vom Verein, die Avdi auf die Idee bringen, Fahrlehrerin zu werden. «Ein paar von ihren sagten zu mir, dass sie viel lieber bei einer Frau Auto fahren lernen würden. Einige kulturell bedingt, andere, weil sie Fahrlehrerinnen als geduldiger wahrnehmen.» Im März 2023 schliesst Avdi ihre Ausbildung zur Fahrlehrerin ab.
«Vielleicht schaffe ich es, auch anderen die Angst vor dem Fahren zu nehmen», sagt die Frau, die sich inzwischen ihre eigene Fahrschule betreibt. Avdi ist sich sicher: «Wüsste mein Mann, dass ich nun Fahrlehrerin bin, würde er sich kaputt lachen. Gerade ich, die so Panik vor dem Fahren hatte. Er wäre aber auch sehr stolz auf mich.» Sirma Avdi selbst zumindest ist es.